Amtsblatt 07/2023
Verdächtig oder verurteilt? Egal, Hauptsache Asylant*in
Im Amtsblatt der Stadt Dessau-Roßlau veröffentlichen die Stadtratsfraktionen jeden Monat ihre politischen Ansichten. Ungefiltert. Ungeprüft. Vieles kann man vernachlässigen, manches ist sinnfrei – und einiges so falsch, dass die jeweils dargebotenen Behauptungen an dieser Stelle eingeordnet und bewertet werden. Das Amtsblatt ist auf der Website der Stadtverwaltung als pdf zu finden – einfach googeln nach Dessau-Roßlau, Amtsblatt und Jahrgang.
Pädagogische Vorbemerkung und Farblehre
Wer zu einem Thema nichts sagen kann, spricht halt über ein anderes. Das ist im Falle der Blaunen erst einmal erfreulich. Zu Problemen der Stadt fällt der Fraktion nichts ein, also schweigt sie dazu. (Diese Einleitung ist erwachsenen-pädagogisch inspiriert. Getreu dem Motto „immer erstmal etwas Positives ansprechen“.)
„Blaune“ bezeichnet hier eine Partei, die als Haupterkennungsfarbe Blau nutzt, deren politische Ausrichtung farblich aber eher an die Färbung von Lehm und Erde erinnert.
Tatsachen: Grundlage seriöser Diskussion
Pädagogisch ernüchternd ist allerdings das, was die Fraktion anstelle örtlich relevanter Sachverhalte zum Schlechtesten gibt: Es geht – wie könnte es anders sein – um Ausländerkriminalität. Das ist an und für sich o.k., denn es gibt dieses Problem und ergo muss es im demokratischen Diskurs vernünftig diskutiert werden. Womit wir auch gleich beim Thema sind: Wer über Kriminalität sprechen und aufklären will, sollte dabei bei der Wahrheit bleiben. Strafrechtlich ist das Vortäuschen und Verzerren von Sachverhalten in der politischen Diskussion zwar nicht relevant. Rückschlüsse auf die politische Seriosität sind bei solcherlei Vorgehen aber geradezu zwingend. Genug der Vorrede, gehen wir in Medias res:
Verfälschung der Antwort der Bundesregierung
222.529 Straftaten seien 2022 bundesweit von „Asylbewerbern, Personen im Status eines abgelehnten Asylantrags oder eines unerlaubten Aufenthaltes in Deutschland“ begangen worden, schreibt der Führer der blaunen Stadtratsfraktion in Dessau-Roßlau, Andreas Mrosek. Er bezieht sich auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion seiner Partei im Bundestag. In Sachsen-Anhalt habe der selbe Personenkreis 4.954 Straftaten begangen. Das ist in Gänze schlicht falsch.
Verdächtig ist nicht Verurteilt
Fehler 1: Statt von Straftätern ist in der Antwort der Bundesregierung durchweg von Tatverdächtigen die Rede. Wörtlich heißt es in der Drucksache 20/6682: „Die PKS (Polizeiliche Kriminal-Statistik, Anmerkung des Autors) beruht auf dem Erkenntnisstand bei Abschluss der polizeilichen Ermittlungen. Straftaten werden zum Teil von der Polizei, insbesondere wegen des unterschiedlichen Ermittlungsstandes, anders bewertet als von der Staatsanwaltschaft oder den Gerichten. Für die Beantwortung der nachfolgenden Fragen wird daher der Begriff des/der Tatverdächtigen (TV) im Sinne der PKS zugrunde gelegt.“
Übersetzt: Nicht jede*n Tatverdächtige*n klagt die Staatsanwaltschaft auch an. Nicht jede*r Angeklagte wird vor Gericht verurteilt. Bis zu einer Verurteilung gilt in einem Rechtsstaat die Unschuldsvermutung. Der Blaune Führer erklärt alle per se zu Verbrechern. Gerichtsurteile sind dem Manne anscheinend egal.
Zwei Zahlen verdeutlichen, wieso die Unterscheidung zwischen Tatverdächtigen und Straftätern entscheidend ist für die Bewertung der Kriminalitätsentwicklung: Im Jahr 2021 zählte die polizeiliche Kriminalitätsstatistik bundesweit 1.892.003 tatverdächtige Personen. Verurteilt wurden 662.100 Personen, davon 157.508 Personen für Straftaten im Straßenverkehr. Die Angaben unterscheiden nicht nach Herkunft oder Aufenthaltsstatus. Zahlen aus 2022 lagen hier zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels nicht vor. Die Relation von Tatverdächtigen zu Verurteilten sollten geneigte Leser*innen im Hinterkopf behalten bei der Einordnung der folgenden Zahlen.
Manche müssen bleiben – trotz ablehnung
Fehler 2: In der Antwort der Bundesregierung werden Tatverdächtige „mit dem Aufenthaltsanlass ‚Asylbewerber‘, ‚Duldung‘ oder ‚unerlaubter Aufenthalt'“ aufgeführt. Die Formulierung ‚Personen im Status eines abgelehnten Asylantrags‘, die Mrsosek benutzt, ist nicht im Text der Antwort enthalten.
Tatsächlich sind die Asylanträge geduldeter Personen abgelehnt. Im Status Duldung sind eben diese Personen aber gemäß Paragraf 60a Aufenhaltsgesetz (AufenthG) – wie es im Juristendeutsch heißt – nicht vollziehbar ausreisepflichtig. Mit anderen Worten: Der Aufenthalt dieser Personen in Deutschland ist nicht strafbar, sie unterliegen gemäß Paragraf 61 AufenthG diversen Regelungen, wo sie sich aufhalten dürfen.
Mrosek suggeriert mit seiner Wortwahl, die entsprechenden Personen hielten sich jenseits aller rechtlichen Regelungen in Deutschland auf und müssten eigentlich abgeschoben werden. Im Falle eines strafrechtlichen Tatverdachts ist sogar das Gegenteil der Fall.
Denn „die Abschiebung eines Ausländers ist auch auszusetzen, wenn seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet für ein Strafverfahren wegen eines Verbrechens von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht für sachgerecht erachtet wird, weil ohne seine Angaben die Erforschung des Sachverhalts erschwert wäre“ (AufenthG, Paragraf 60a, Absatz 2). Tatverdächtige dürfen also gar nicht abgeschoben werden, wenn Staatsanwaltschaft oder Gericht ihre Anwesenheit zum Zwecke der Aufklärung einer Straftat für geboten halten.
Diletantismus mit zahlen
Fehler 3: Die Anzahl tatverdächtiger Personen in Sachsen-Anhalt mit Aufenthaltsanlässen wie unter 2 dargelegt beläuft sich auf 4.997. Mrosek gibt die Zahl für Thüringen an (4.954). Falsch ist auch seine damit verbundene Behauptung, diese Personen seien allesamt Straftäter. Richtig ist, dass diese Personen verdächtigt werden, Straftaten begangen zu haben.
Ähnlich dilettantisch geht der örtliche Fraktions-Führer mit Zahlen um, wenn es um Dessau-Roßlau geht. Um Werte für die Stadt zu ermitteln, rechnet er angeblich statistisch (wörtlich: „statistisch gerechnet“). Das ist Blödsinn. Man kann nicht statistisch rechnen. Werte einer Statistik werden empirisch ermittelt, also gemessen. Man kann mit Werten einer Statistik rechnen, sie aber nicht berechnen. Mathe auf Niveau der Sekundarstufe.
Fast 12 prozent weniger Straftaten in Dessau-Rosslau
Doch Wortklauberei beiseite. Berechnungen welcher Art auch immer sind im vorliegenden Fall unnötig. Für die Beurteilung der Situation in Dessau-Roßlau reicht ein Blick in die polizeiliche Kriminalitätsstatistik 2022 des Landes Sachsen-Anhalt. Die führt für den Verantwortungsbereich des Polizeireviers Dessau-Roßlau 6.707 Straftaten auf, 11,9 Prozent weniger als im Jahr 2021.
Darunter eine Straftat gegen das Leben, aber weder Mord noch Totschlag (beispielsweise fällt auch fahrlässige Tötung in diese Kategorie, wird aber nicht gesondert statistisch erfasst). 67 Straftaten richteten sich gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 13 Prozent weniger als 2022. Die Deliktszahlen stimmen nicht mit der Anzahl der Verdächtigen überein. Deren Anzahl liegt jeweils wesentlich niedriger, weil Mehrfachtäter dabei sind oder keine Verdächtigen ermittelt werden konnten.
Unter allen Straftaten in Dessau-Roßlau waren 2.042 Diebstahlsdelikte, 26,8 Prozent weniger als 2021. Um 29,5 Prozent angestiegen ist in der Stadt die Anzahl der Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit auf 1.110 Fälle. Rauschgiftdelikte registrierte die örtliche Polizei 350 und damit 36,9 Prozent weniger als im Vorjahr.
die Aufklärungsquote
Aufgeklärt wurden in Dessau-Roßlau 56,1 Prozent aller Straftaten in 2022. Bei Straftaten gegen das Leben (eine) lag die Aufklärungsquote bei 100 Prozent, von den Gewalttaten wurden 91,3 Prozent, von den Rauschgiftdelikten 90 Prozent und von den Diebstählen 37,5 Prozent im Jahr 2022 aufgeklärt.
Genauigkeit und Korrektheit sind aber ja in der Kriminalitätsstatistik auch nicht ganz so wichtig, Hauptsache sie (die Zahlen) regen zum Gruseln an. Wahrscheinlich aus eben diesem Grunde listet der örtliche Fraktions-Führer anstelle der frei im Internet verfügbaren Zahlen zur Situation in Dessau-Roßlau lieber wesentlich höhere Angaben auf, die sich auf das Bundesgebiet beziehen, und unterschlägt die bereits skizzierte Unterscheidung zwischen Tatverdächtigen und verurteilten Täterinnen und Tätern (alle Angaben in diesem Text können frei recherchiert werden).
Wissenschaftlich?
Real-Satire am Rande: Mrosek ist laut Darstellung seines Arbeitgebers, einem Bundestagsabgeordneten der blaunen Fraktion, dessen „Wissenschaftlicher Mitarbeiter“. Na, dann müssen wir uns um die Wissenschaft der Blaunen ja keine Sorgen machen…
Kriminalstatistischen Zahlen- und Wortsalat à la Blaune den Wähler*innen aber als Tatsache unterjubeln zu wollen, ist keine Phantasie-Wissenschaft, sondern politischer Betrug.