Partei der Verfälscher

Amtsblatt 07/2023

Verdächtig oder verurteilt? Egal, Hauptsache Asylant*in

Im Amtsblatt der Stadt Dessau-Roßlau veröffentlichen die Stadtratsfraktionen jeden Monat ihre politischen Ansichten. Ungefiltert. Ungeprüft. Vieles kann man vernachlässigen, manches ist sinnfrei – und einiges so falsch, dass die jeweils dargebotenen Behauptungen an dieser Stelle eingeordnet und bewertet werden. Das Amtsblatt ist auf der Website der Stadtverwaltung als pdf zu finden – einfach googeln nach Dessau-Roßlau, Amtsblatt und Jahrgang.

Pädagogische Vorbemerkung und Farblehre

Wer zu einem Thema nichts sagen kann, spricht halt über ein anderes. Das ist im Falle der Blaunen erst einmal erfreulich. Zu Problemen der Stadt fällt der Fraktion nichts ein, also schweigt sie dazu. (Diese Einleitung ist erwachsenen-pädagogisch inspiriert. Getreu dem Motto „immer erstmal etwas Positives ansprechen“.)

„Blaune“ bezeichnet hier eine Partei, die als Haupterkennungsfarbe Blau nutzt, deren politische Ausrichtung farblich aber eher an die Färbung von Lehm und Erde erinnert.

Tatsachen: Grundlage seriöser Diskussion

Pädagogisch ernüchternd ist allerdings das, was die Fraktion anstelle örtlich relevanter Sachverhalte zum Schlechtesten gibt: Es geht – wie könnte es anders sein – um Ausländerkriminalität. Das ist an und für sich o.k., denn es gibt dieses Problem und ergo muss es im demokratischen Diskurs vernünftig diskutiert werden. Womit wir auch gleich beim Thema sind: Wer über Kriminalität sprechen und aufklären will, sollte dabei bei der Wahrheit bleiben. Strafrechtlich ist das Vortäuschen und Verzerren von Sachverhalten in der politischen Diskussion zwar nicht relevant. Rückschlüsse auf die politische Seriosität sind bei solcherlei Vorgehen aber geradezu zwingend. Genug der Vorrede, gehen wir in Medias res:

Verfälschung der Antwort der Bundesregierung

222.529 Straftaten seien 2022 bundesweit von „Asylbewerbern, Personen im Status eines abgelehnten Asylantrags oder eines unerlaubten Aufenthaltes in Deutschland“ begangen worden, schreibt der Führer der blaunen Stadtratsfraktion in Dessau-Roßlau, Andreas Mrosek. Er bezieht sich auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion seiner Partei im Bundestag. In Sachsen-Anhalt habe der selbe Personenkreis 4.954 Straftaten begangen. Das ist in Gänze schlicht falsch.

Verdächtig ist nicht Verurteilt

Fehler 1: Statt von Straftätern ist in der Antwort der Bundesregierung durchweg von Tatverdächtigen die Rede. Wörtlich heißt es in der Drucksache 20/6682: „Die PKS (Polizeiliche Kriminal-Statistik, Anmerkung des Autors) beruht auf dem Erkenntnisstand bei Abschluss der polizeilichen Ermittlungen. Straftaten werden zum Teil von der Polizei, insbesondere wegen des unterschiedlichen Ermittlungsstandes, anders bewertet als von der Staatsanwaltschaft oder den Gerichten. Für die Beantwortung der nachfolgenden Fragen wird daher der Begriff des/der Tatverdächtigen (TV) im Sinne der PKS zugrunde gelegt.“

Übersetzt: Nicht jede*n Tatverdächtige*n klagt die Staatsanwaltschaft auch an. Nicht jede*r Angeklagte wird vor Gericht verurteilt. Bis zu einer Verurteilung gilt in einem Rechtsstaat die Unschuldsvermutung. Der Blaune Führer erklärt alle per se zu Verbrechern. Gerichtsurteile sind dem Manne anscheinend egal.

Zwei Zahlen verdeutlichen, wieso die Unterscheidung zwischen Tatverdächtigen und Straftätern entscheidend ist für die Bewertung der Kriminalitätsentwicklung: Im Jahr 2021 zählte die polizeiliche Kriminalitätsstatistik bundesweit 1.892.003 tatverdächtige Personen. Verurteilt wurden 662.100 Personen, davon 157.508 Personen für Straftaten im Straßenverkehr. Die Angaben unterscheiden nicht nach Herkunft oder Aufenthaltsstatus. Zahlen aus 2022 lagen hier zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels nicht vor. Die Relation von Tatverdächtigen zu Verurteilten sollten geneigte Leser*innen im Hinterkopf behalten bei der Einordnung der folgenden Zahlen.

Manche müssen bleiben – trotz ablehnung

Fehler 2: In der Antwort der Bundesregierung werden Tatverdächtige „mit dem Aufenthaltsanlass ‚Asylbewerber‘, ‚Duldung‘ oder ‚unerlaubter Aufenthalt'“ aufgeführt. Die Formulierung ‚Personen im Status eines abgelehnten Asylantrags‘, die Mrsosek benutzt, ist nicht im Text der Antwort enthalten.

Tatsächlich sind die Asylanträge geduldeter Personen abgelehnt. Im Status Duldung sind eben diese Personen aber gemäß Paragraf 60a Aufenhaltsgesetz (AufenthG) – wie es im Juristendeutsch heißt – nicht vollziehbar ausreisepflichtig. Mit anderen Worten: Der Aufenthalt dieser Personen in Deutschland ist nicht strafbar, sie unterliegen gemäß Paragraf 61 AufenthG diversen Regelungen, wo sie sich aufhalten dürfen.

Mrosek suggeriert mit seiner Wortwahl, die entsprechenden Personen hielten sich jenseits aller rechtlichen Regelungen in Deutschland auf und müssten eigentlich abgeschoben werden. Im Falle eines strafrechtlichen Tatverdachts ist sogar das Gegenteil der Fall.

Denn „die Abschiebung eines Ausländers ist auch auszusetzen, wenn seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet für ein Strafverfahren wegen eines Verbrechens von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht für sachgerecht erachtet wird, weil ohne seine Angaben die Erforschung des Sachverhalts erschwert wäre“ (AufenthG, Paragraf 60a, Absatz 2). Tatverdächtige dürfen also gar nicht abgeschoben werden, wenn Staatsanwaltschaft oder Gericht ihre Anwesenheit zum Zwecke der Aufklärung einer Straftat für geboten halten.

Diletantismus mit zahlen

Fehler 3: Die Anzahl tatverdächtiger Personen in Sachsen-Anhalt mit Aufenthaltsanlässen wie unter 2 dargelegt beläuft sich auf 4.997. Mrosek gibt die Zahl für Thüringen an (4.954). Falsch ist auch seine damit verbundene Behauptung, diese Personen seien allesamt Straftäter. Richtig ist, dass diese Personen verdächtigt werden, Straftaten begangen zu haben.

Ähnlich dilettantisch geht der örtliche Fraktions-Führer mit Zahlen um, wenn es um Dessau-Roßlau geht. Um Werte für die Stadt zu ermitteln, rechnet er angeblich statistisch (wörtlich: „statistisch gerechnet“). Das ist Blödsinn. Man kann nicht statistisch rechnen. Werte einer Statistik werden empirisch ermittelt, also gemessen. Man kann mit Werten einer Statistik rechnen, sie aber nicht berechnen. Mathe auf Niveau der Sekundarstufe.

Fast 12 prozent weniger Straftaten in Dessau-Rosslau

Doch Wortklauberei beiseite. Berechnungen welcher Art auch immer sind im vorliegenden Fall unnötig. Für die Beurteilung der Situation in Dessau-Roßlau reicht ein Blick in die polizeiliche Kriminalitätsstatistik 2022 des Landes Sachsen-Anhalt. Die führt für den Verantwortungsbereich des Polizeireviers Dessau-Roßlau 6.707 Straftaten auf, 11,9 Prozent weniger als im Jahr 2021.

Darunter eine Straftat gegen das Leben, aber weder Mord noch Totschlag (beispielsweise fällt auch fahrlässige Tötung in diese Kategorie, wird aber nicht gesondert statistisch erfasst). 67 Straftaten richteten sich gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 13 Prozent weniger als 2022. Die Deliktszahlen stimmen nicht mit der Anzahl der Verdächtigen überein. Deren Anzahl liegt jeweils wesentlich niedriger, weil Mehrfachtäter dabei sind oder keine Verdächtigen ermittelt werden konnten.

Unter allen Straftaten in Dessau-Roßlau waren 2.042 Diebstahlsdelikte, 26,8 Prozent weniger als 2021. Um 29,5 Prozent angestiegen ist in der Stadt die Anzahl der Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit auf 1.110 Fälle. Rauschgiftdelikte registrierte die örtliche Polizei 350 und damit 36,9 Prozent weniger als im Vorjahr.

die Aufklärungsquote

Aufgeklärt wurden in Dessau-Roßlau 56,1 Prozent aller Straftaten in 2022. Bei Straftaten gegen das Leben (eine) lag die Aufklärungsquote bei 100 Prozent, von den Gewalttaten wurden 91,3 Prozent, von den Rauschgiftdelikten 90 Prozent und von den Diebstählen 37,5 Prozent im Jahr 2022 aufgeklärt.

Genauigkeit und Korrektheit sind aber ja in der Kriminalitätsstatistik auch nicht ganz so wichtig, Hauptsache sie (die Zahlen) regen zum Gruseln an. Wahrscheinlich aus eben diesem Grunde listet der örtliche Fraktions-Führer anstelle der frei im Internet verfügbaren Zahlen zur Situation in Dessau-Roßlau lieber wesentlich höhere Angaben auf, die sich auf das Bundesgebiet beziehen, und unterschlägt die bereits skizzierte Unterscheidung zwischen Tatverdächtigen und verurteilten Täterinnen und Tätern (alle Angaben in diesem Text können frei recherchiert werden).

Wissenschaftlich?

Real-Satire am Rande: Mrosek ist laut Darstellung seines Arbeitgebers, einem Bundestagsabgeordneten der blaunen Fraktion, dessen „Wissenschaftlicher Mitarbeiter“. Na, dann müssen wir uns um die Wissenschaft der Blaunen ja keine Sorgen machen…

Kriminalstatistischen Zahlen- und Wortsalat à la Blaune den Wähler*innen aber als Tatsache unterjubeln zu wollen, ist keine Phantasie-Wissenschaft, sondern politischer Betrug.

Richtigstellung

vom 15. Juli 2023 zum u.g. Beitrag vom 28. Juni 2023 in Bezug auf die Wohungsgenossenschaft Dessau eG:

Wir haben auf dieser Website unter der Überschrift „Robert Reck gegen den Stadtrat: Interessen im Streit um Regenbogenschule“ geschrieben:

„(…) um PLatz für einen Schulneubau zu schaffen, müsste dort (…) ein Wohnblock (…) der Wohnungsbaugesellschaft Dessau (WGD) [abgerissen werden]. Sowohl (…) als auch WGD kämpfen mit dem Problem Leerstand. In vielen alten Wohnblöcken Unternehmen dieser Unternehmen sind nur wenige Wohneinheiten vermietet.“

Hierzu stellen wir richtig:

Es muss kein Wohnobjekt der Wohnungsbaugenossenschaft Dessau (WGD) abgerissen werden, um Platz für einen Schulneubau am Standort Friedrikenstraße zu schaffen.

Die WGD kämpft auch nicht mit Leerstand. Es ist unzutreffend, dass in vielen älteren Wohnblöcken der WDG nur wenige Wohneinheiten vermietet wären.

Ende der Richtigstellung

Robert Reck gegen den Stadtrat: Interessen im Streit um Regenbogenschule – Update vom 08. Juli 2023 mit Korrekturen

Welche Interessen stecken hinter dem Widerspruch des OB?

Regenbogenschule und Monopoly. Eine Schule für geistig behinderte Kinder und ein Gesellschaftsspiel. Die Schule braucht dringend einen neuen Standort, im Spiel geht es um Profit mit Immobiliengeschäften. Wer im Spiel auf dem Feld „Gehe in das Gefängnis“ landet oder die entsprechende Ereigniskarte zieht, setzt erst einmal aus.

Konflikt statt Konsens: Undurchsichtige Motivation

Der Zusammenhang: In Dessau-Roßlau will Oberbürgermeister Robert Reck die Aussetz-Karte ziehen. Nicht für sich, sondern für den Stadtrat. Nicht in einem Spiel, sondern in der Debatte um den neuen Standort der Regenbogenschule. Dabei geht es auch um Immoblilien. Und wohl auch um Profitinteressen. Denn wenn Reck sich durchsetzt, profitieren mutmaßlich Dessauer Wohnungsbauunternehmen. Der Preis für den Profit: Behinderte Mädchen und Jungen müssten mit ihren Familien noch länger auf eine angemessene Schule warten, würden noch länger als schon jetzt absehbar am bisherigen Standort in der Breite Straße in Containern unterrichtet. Dröseln wir die Sachlage mal auf, schauen uns die „Player“ an in diesem bislang reichlich undurchsichtigem Spiel und leiten Indizien für die Motivation des Handelns des OB ab.

Rückblende: Ursprünglich wurden acht Standorte für einen Neubau der Regenbogenschule in Betracht gezogen. Übrig blieben letztlich drei, darunter der Standort an der Bernburger Straße. Das dortige Grundstück gehört der Stadt. Moderne Schulgebäude mit Spiel- und Auffenthaltsbereichen für Kinder mit hohem Bewegungsdrang können dort relativ einfach angelegt werden. Bestätigt hat das eine 85.000 Euro teure Machbarkeitsstudie.

All das galt als Konsens zwischen Stadtrat, fachlich zuständigen Dezernaten und der Verwaltungsspitze, dem Oberbürgermeister. Bis zur Sitzung des Stadtrates am 21. Juni 2023. Auf der Tagesordnung: Beschlussfassung zum neuen Schulstandort an der Bernburger Straße. „Selten gut vorbereitet“ war der Rat laut entsprechender Äußerungen einzelner seiner Mitglieder. Bis auf rund ein halbes Dutzend stimmten die Stadträtinnen und Stadträte für den Standort. Erst dann zog Robert Reck seine vermeintliche Trumpfkarte: Ein Veto. Der Oberbürgermeister kündigte an, gegen den Beschluss des Stadtrates Widerspruch einzulegen. Dafür hat er 14 Tage Zeit. Binnen dieser Frist muss Reck den Widerspruch mitsamt Begründung schriftlich einreichen.

Rechtswidrig oder nachteilig

Laut Kommunalverfassungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt muss respektive kann der Oberbürgermeister als Hauptverwaltungsbeamter gegen Beschlüsse des demokratischen Gremiums Stadtrat unter bestimmten Voraussetzungen Widerspruch einlegen. Paragraf 65 des Gesetzes: „Der Hauptverwaltungsbeamte muss Beschlüssen der Vertretung widersprechen, wenn er der Auffassung ist, dass diese rechtswidrig sind. Er kann Beschlüssen widersprechen, wenn diese für die Kommune nachteilig sind.“

Im vorliegenden Fall kommt nur Nachteilig-Regelung infrage. Sie hat lediglich aufschiebende Wirkung. Der Stadtrat kann den Widerspruch des OB mit einem erneuten Beschluss überstimmen. Danach bliebe dem OB nur noch der Verweis auf Rechtswidrigkeit. Er müsste dann die Kommunalaufsicht einschalten. Nicht nur die würde sich wohl wundern, wenn ein mit der Begründung „Nachteil für die Stadt“ eingereichter Widerspruch nachlaufend als angeblich rechtswidrig eingestuft würde. Will sich Reck nicht lächerlich machen, bliebe es beim Vorwurf des Nachteils, den der Rat der Stadt mit dem Beschluss Bernburger Straße einbrocken angeblich würde.

unternehmen wollen wohnblöcke loswerden – Hinweis zu Korrektur im folgenden Absatz!

Wieso aber soll der Schulstandort Bernburger Straße für die Stadt nachteilig sein? Das muss OB Reck in seinem schriftlichen Widerspruch darlegen – und das dürfte schwierig werden. Vorteilhaft wäre der Standort Friederikenstraße ja – allerdings in erster Linie für die Eigentümer der dortigen Wohnobjekte. Denn um Platz für einen Schulneubau zu schaffen, müssten dort Wohnblöcke abgerissen werden.

Nicht nur in Dessau-Roßlau kämpfen große Wohnungsunternehmen mit dem Problem Leerstand. In alten Wohnungsblöcken sind oft nur wenige Wohneinheiten vermietet. Kosten für Instandhaltung und Versorgung leerer Wohnungen machen ganze Blöcke unrentabel. Das Umlegen entsprechender Gesamtkosten auf verbliebene und oft ältere und/oder gesundheitlich eingeschränkte Mieter*innen hat in der Vergangenheit schon öfter für Ärger gesorgt. Rausschmeißen können die Unternehmen die wenigen verbliebenen Mietparteien aber auch nicht so einfach. Das Gesetz sieht nicht nur für langjährige Mieter*innen Kündigungsfristen von bis zu zwölf Monaten vor.

Korrektur früherer Version der Beitrages:

In der früheren, am 28. Juni 2023 veröffentlichten Version des Beitrages, war im vorstehenden Absatz ein sachlicher Fehler enthalten. Dieser Fehler ist mit Aktualisierung vom 08. Juli 2023 entfallen.

Mieterschutz: Jahrelange verfahren

Gerade bei alten und/oder gesundheitlich eingeschränkten Mieter*innen greift zudem Paragraf 574 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), die Härtefallregelung. Demnach „kann [der Mieter] der Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.“

Kauft die Stadt nun die entsprechenden Wohnblöcke, sind die jeweiligen Eigentümer ihre entsprechenden Probleme auf einen Schlag los. Dann muss die Stadt die entsprechenden Mieter*innen loswerden. Im Falle des DWG-Wohnblocks an der Friederikenstraße sind laut öffentlicher Berichterstattung rund 60 von 160 Wohnungen belegt. Klagen nur einige der Mieter*innen gegen Kündigungen, sind sehr langwierige Gerichtsverfahren absehbar. Die Ergebnisse sind alles andere als voraussehbar. Denn zu den im Gesetz angesprochenen Härten zählt in der Fachliteratur auch eine lange Mietdauer, die mit starker sozialer Verwurzelung im örtlichen Umfeld einhergeht. Eben davon ist gerade bei älteren Mieterinnen und Mietern auszugehen. Die Folge: Der Baubeginn einer neuen Schule verschöbe sich um weitere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.

spontane Intervention oder geplantes gekungel?

All diese Aspekte hätten im Stadtrat trefflich diskutiert und bewertet werden können, wenn OB Reck den von ihm aus dem politischen Hut gezauberten Standort Friederikenstraße frühzeitig als Vorschlag in die Beratungen eingebracht hätte. Hat er aber nicht. Der Fachmann staunt, der Laie wundert sich und spekuliert über die Gründe der Reck’schen Spontaninternvention – die so spontan womöglich gar nicht war.

Auf der Tagesordnung des Ausschusses für Gesundheit, Bildung und Soziales am 14. Juni 2023 stand der „Sachstand zur Standortentscheidung Förderschule für Geistigbehinderte“ zur öffentlichen Beratung. Laut Berichterstattung der örtlichen Presse war die Einordnung des Themas als öffentlich aus Sicht des Stadtratspräsidenten (CDU) ein Versehen. Flugs beantragte CDU-Stadtrat Michael Puttkammer, die Causa nichtöffentlich zu beraten. Er scheiterte mit seinem Antrag.

Scheiterte Überrumpelungs-Taktik aus versehen?

Wieso aber wollte CDU-Mann Puttkammer das Thema nichtöffentlich behandeln? Laut Paragraf 52 Kommunalverfassung „[ist] die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn (…) berechtigte Interessen Einzelner, insbesondere bei (…) der Ausübung des Vorkaufsrechts, Grundstücksangelegenheiten und Vergabeentscheidungen, dies erfordern.“ Dem erfahrenen Stadtrat dürfte diese Regelung geläufig sein. Hat Puttkammer womöglich unter Ausschluss der Öffentlichkeit den bis zu diesem Zeitpunkt nicht angesprochenen Standort Friederikenstraße und den damit verbundenen Kauf des Grundstücks mitsamt der Wohnobjekte behandeln wollen? Für diesen Fall wäre der Paragraf einschlägig gewesen. Dann hätte die CDU die an der Friederikenstraße notwendigen Grundstückskäufe ansprechen und den Rest des Rates damit überrumpen können. Es kam nicht dazu.

Grünfläche und industriegebiet: der WIC interveniert – Hinweis zu Korrektur im folgenden Absatz!

Nur wenige Tage später (Presseberichterstattung am 19. Juni 2023) spricht sich der Wirtschafts- und Industrieclub Anhalt (WIC) öffentlich für den Standort Friederikenstraße aus. Begründung: Für das Grundstück an der Bernburger Straße sei gemäß Flächennutzungsplan eine Grünfläche vorgesehen. Außerdem läge die Schule dort neben einem „Industriegebiet“. Gleich mal ein Kreuz im Kalender machen: Der WIC nimmt eine geplante Grünfläche zum Anlass, eine Bebauung abzulehnen. Ansonsten ist der Lobby-Club eher weniger gut auf Stadtwildnis und ähnliche Dinge zu sprechen… Das vermeintliche Industriegebiet ist eine relativ übersichtliche Gewerbefläche. Im benachbarten Jugendclub Thomas-Müntzer verbringen Kinder und Jugendliche Teile ihrer Freizeit.

Aus den Fingern gesogen erscheint als relativ freundliche Beschreibung für die vermeintlichen Argumente des WIC gegen die Bernburger Straße. Wesentlich handfester muten die Interessen an, die der WIC für seine Mitglieder vertritt und damit auch für die Herren Nicky Meißner und Matthias Kunz. Meißner und Kunz sind in leitenden Positionen in der Dessau-Roßlauer Wohnungswirtschaft tätig.

Korrektur früherer Version der Beitrages:

In der früheren, am 28. Juni 2023 veröffentlichten Version des Beitrages, war im vorstehenden Absatz ein sachlicher Fehler enthalten. Dieser Fehler ist mit Aktualisierung vom 08. Juli 2023 korrigiert worden.

Links-Unternehmer mit interessen?

Dass der Vorsitzende der Linksfraktion im Stadtrat, Ralf Schönemann, nach dem Scheitern des Antrages seines CDU-Ratskollegen auf Nichtöffentlichkeit am 14. Juni eine Vertagung des Tagesordnungspunktes Standort Bernburger Straße vorschlug (auch dies kam nicht zustande), wäre dabei nur noch eine lächerliche Fußnote, würde nicht auch sein Entsorgungsunternehmen von Aufträgen der Stadt profitieren (und bei einem Abriss der Wohnblöcke in der Friederikenstraße gäbe es einiges zu entsorgen).

Pläne des DWG-Geschäftsführers

Geschäftsführer der stadteigenen DWG ist seit April 2022 Thomas Florian. Die Stelle hat Florian sicherlich nicht ohne Zustimmung seitens OB Reck erhalten. Und Reck hätte kaum einen Geschäftsführer eingestellt, der nicht bereit wäre, Recks Vorstellungen und Pläne umzusetzen. Florians erklärte Absicht ist es, die DWG vom Leerstandsverwalter zu einem profitablen Unternehmen umzubauen, das im Sinne der Stadtentwicklung agiert. Ergo muss es im Interesse des Geschäftsführers liegen, die Leerstände an der Friederikenstraße abzustoßen. Und nichts liegt näher, als dass Reck seinen Geschäftsführer entsprechend unterstützt – zum Beispiel mit einem Kauf der Blöcke zum Zwecke des Abrisses, weil dort eine Schule gebaut werden soll.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass Recks Widerspruch geradezu geplant gewesen sein muss. Und sei es als letzte Option, wenn alle anderen Versuche der Einflussnahme nicht fruchten. Seine offizielle Begründung, er wolle sein Wahlversprechen einhalten, die Innenstadt zu beleben und deshalb die Schule in der Friederikenstraße ansiedeln, ist irgendwas zwischen hilflos und lächerlich. Bestenfalls ein Ablenkungsmanöver. Oder einfach der Versuch, den Stadtrat damit unter Druck zu setzen, dass er, Reck, ja schließlich für sein Vorhaben Innenstadtbelebung gewählt worden sei. Wobei fraglich bleibt, welche belebenden Auswirkungen eine Schule auf die City haben soll.

Baukosten sind nicht Gesamtkosten

Was bleibt, ist der Verweis des Oberbürgermeisters auf niedrigere Baukosten an der Friederikenstraße. Dort sei das Bauen drei Millionen Euro günstiger machbar als an der Bernburger Straße. Die Beigeordnete für Bauen und Stadtgrün, Jacqueline Lohde, hatte hingegen auf höhere Kosten an der Friederikenstraße im Vergleich zur Bernburger Straße hingewiesen. Mögliche Lösung: Lohde bezieht sich auf die Gesamtrechnung, Reck gibt nur Baukosten an. Kosten für Grundstückserwerb, Gerichtsverfahren und Abbruch sind in Baukosten allein nicht enthalten. Das wäre noch eine Nebelkerze des Oberbürgermeisters.

Verwaltung: Widerspruch gegen widerspruch

Entsprechende Fragen stellt man sich offenbar auch in der Stadtverwaltung. Aus gut unterrichteter Quelle verlautet, dass selbst hochrangiges Personal der Administration den Plänen Recks gelinde gesagt kritisch gegenübersteht. Der Oberbürgermeister könne weder die Rechtswidrigkeit des Stadtratsbeschlusses, noch daraus erwachsende Nachteile für die Stadt darlegen. Der Schulneubau sei dringend notwendig, Recks Widerspruch verzögere schon weit fortgeschrittene Planungen, grummelt es.

Welcher Vorteil sich für die Stadt daraus ergibt, dass für das vorliegende Machbarkeitsgutachten noch einmal 10.000 Euro nachgeschossen werden müssen, um auch den neuen Standort Friederikenstraße zu berücksichtigen, bleibt vorerst das Geheimnis des Hauptverwaltungsbeamten. Zumal das Geld mutmaßlich für einen Standort ausgegeben würde, der nicht gegen den Beschluss des Stadtrates durchzusetzen ist.

KapitAl oder Kinder: Öffentlichkeit mobilisieren

Klar, ohne Kapital kommt die Belebung der City nicht voran. Kapital kann nur von Unternehmen kommen. Aber es muss am richtigen Ort eingesetzt werden. Und Kapital darf nicht wichtiger sein als Kinder. Dem Vernehmen nach erwägen erste Stadträtinnen und Stadträte, Eltern und Öffentlichkeit zu mobilisieren.

Bringen Pflicht und Zwang die Wirtschaft in Gang?

CDU-Politiker für Arbeitszwang und Dienstpflicht

Sepp Müller, CDU-Bundestagsabgeordneter für Dessau-Roßlau, gibt sich in der breiten Öffentlichkeit gern jovial bis volksnah. Beim Bäumepflanzen zum Beispiel. Und im Tierheim. Das in Dessau hatte er während seiner „Zuhör-Tour im Osten“ besucht. Für Fotos in der örtlichen Zeitung schwang er dort den Besen. Ob Müller auch Katzenklos geleert hat, ist nicht überliefert. In Wörlitz trat er gemeinsam mit Carsten Linnemann (CDU MdB, links im Bild oben) vor der Mittelstandsunion (MIT) auf.

Müller versteht es, den Menschen „im Osten“ auf’s sprichwörtliche Maul zu schauen. Zuweilen entsteht der Eindruck, er rede den Leuten nach demselben. Vor allem teile er die Abneigung gegen Bevormundung. Die möge er gar nicht. In der Hauptstadtpresse verkündete der CDU-Mann am 15. Mai, die Ostdeutschen seien „bei Verboten total sensibel“.

Sensible Ostdeutsche und Merkels Heizungs-gesetz

Das war auf die Heizungspläne des grünen Wirtschaftsministers gemünzt. Der wolle Hausbesitzer zum Heizungstausch zwingen. Tatsächlich schreibt das Gebäudeenergiegesetz (GEG) aus dem August 2020 vor, ineffiziente Öl- und Gasheizungen durch energiesparendere Heizungen auszutauschen, wenn sie über mehr als 30 Jahre alte Konstanttemperaturkessel verfügen. Müllers Parteifreundin Angela Merkel war damals Bundeskanzlerin. Die Erkenntnis, dass heute schon bestehende „Heizungsverbote“ unter CDU-Ägide beschlossen wurden, möchte Müller seiner sensiblen Wählerschaft offenbar nicht zumuten.

20 Euro für die Mittelstandsunion

Vermutlich reagieren sensible Wähler*innen auch nicht sonderlich angetan auf Eintrittspreise für – nun sagen wir Partei-Informationsveranstaltungen. 20 Euro sollten Besucher*innen beispielsweise für einen Auftritt Müllers und seines Partei- und Parlamentskollegen Carsten Linnemann bei der „Mittelstands- und Wirtschaftsunion“ (MIT) berappen.

Jene, die die 20 Euro bezahlt hatten, durften sich an appetitlichen Portionen von zartem Filet auf Spargelmus und ähnlichen Produkten der gehobenen Küche gütlich tun. Neben Mittelständlern und Freiberuflern waren am 09. Mai im 4-Sterne-Hotel „Zum Stein“ in Wörlitz auch Vertreter kommunaler Verwaltungen und Politik dabei. Ihnen setzten Linnemann und Müller recht handfeste politische Kost vor.

zwang und Dienst statt Wettbewerb

Von Arbeitszwang über Dienstpflicht bis zu Azubi-Ablöse reichte die Zutatenliste. Viele der anwesenden Unternehmer*innen goutierten diese Einlassungen mit reichlich Applaus. Grund für den angeblich bevorstehenden Ruin des Industriestandorts Deutschland sei nämlich zu viel Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt.

Richtig gelesen: Ausgerechnet das Strukturprinzip der Marktwirtschaft, den Wettbewerb, identifizierten die CDU-Männer als Nachteil für mittelständische Unternehmen und Betriebe. Müssen sich Arbeitgeber*innen mittlerweile doch tatsächlich um Mitarbeiter*innen bemühen. Die stehen auf der Suche nach Erwerbseinkommen oftmals nicht mehr Schlange, sondern sortieren Arbeitsplatzangebote nach Attraktivität und suchen im Zweifelsfall lieber ein paar Wochen länger. Faktoren Arbeitszeiten, Familienfreundlichkeit und Höhe der Entlohnung entscheiden mehr denn je über den Arbeitgeber-Erfolg auf der Suche nach Arbeitskräften.

Chefs als Bewerber, faule Arbeitnehmer

Fachkräfte sind rar gesät, verkünden Wirtschaftsnachrichten regelmäßig. Der Markt hat sich gedreht vom Nachfrage- in einen Anbietermarkt. Die früher herrschende Knappheit des Faktors Arbeit war ein Vorteil für Arbeitgeber*innen. Die konnten aus Stapeln von Bewerbungen passende Mitarbeiter*innen auswählen. Heute müssen sich Chefinnen und Chefs oftmals bei potenziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bewerben. Bei Großunternehmen und Konzernen war diese Botschaft schon vor Jahren angekommen. Manch Mittelständler*in hat unterdessen weiter vor sich hin gewurschtelt und wundert sich heute, dass Arbeitsuchende eben nicht mehr für den nächst schlechtesten Job unterschreiben.

CDU-Landeswirtschaftsminister Sven Schulze sieht allerdings keine Marktmechanismen, sondern Faulheit. Faulheit der Arbeitnehmer*innen wohlgemerkt. Er definiert Arbeitslosigkeit flugs um zur „staatlich subventionierten Nichtarbeit“. Und die brauche es nicht, denn „es gibt überall Arbeit für alle“. Parteikollege Linnemann assistiert: „Ich würde eine Arbeitspflicht einführen.“ Nach sechs bis zwölf Monaten staatlicher Unterstützung sollen Arbeitslose jedwede Beschäftigung annehmen müssen. Wäre doch gelacht, wenn die unionsnahe Mittelstandslobby dem Sozialen in der Marktwirtschaft nicht ein Schnippchen schlagen könnte.

Belastete arbeitspflicht

Doof findet Linnemann, dass Arbeitspflicht in Deutschland „historisch belastet“ sei. Mancher assoziiere solch eine Produktivitäts-Zwangsbeglückung mit Arbeitsdienst, wie er in früheren Phasen der Geschichte der Deutschen nicht unüblich war. Andere seien da entspannter, referiert der promovierte Volkswirt und verweist auf die Niederlande. Dort gäbe es den Zwang, als Gegenleistung für staatliche Unterstützung zu arbeiten. Dass unsere Nachbarn im Nordwesten ein völlig anderes System der Arbeitslosenunterstützung haben, dass dort Kommunen und nicht der Staat für Unterstützung und Aktivierung zuständig sind, dass je nach örtlichen Gegebenheiten und Klientel auch die regelmäßige Teilnahme an Kaffeekränzchen als Gegenleistung für staatliche Unterstützung gilt – all das verschweigt Linnemann.

Sepp Müller variiert das Thema mit dem Vorschlag, Arbeitslosenunterstützung höchstens zwei Jahre lang zu gewähren. Wer nach dieser Frist noch nicht arbeite, müsse wohl krank sein. Kranke aber müssten von Krankenversicherung oder Rentenkasse versorgt werden. Zu Auswirkungen auf die schon jetzt klamme Finanzausstattung der entsprechenden Kassen inklusive möglicher Steigerungen der Beitragssätze auch für Unternehmer*innen verliert er kein Wort.

Erst mal dienen lernen

Vielleicht hilft ja auch eine allgemeine Dienstpflicht. Ein Jahr lang sollen junge Menschen nach der Schule einen Pflichtdienst absolvieren. Gern in der Bundeswehr. Aber auch andere Dienste seien möglich. Hauptsache junge Menschen werden erst einmal daran gewöhnt, ihr Leben nicht nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, sondern zu dienen. Die Vermutung liegt nah, dass die verweichlichte junge Generation abgehärtet werden soll. Motto: Der faulenzende Pöbel wird endlich zur Arbeit erzogen. Die Versammlung applaudiert.

Wie durch Dienstpflicht verzögerter Berufseinstieg gegen den Fachkräftemangel helfen soll, bleibt ungeklärt. Gleiches gilt für die Antwort auf die Frage, wieso Qualifikationen und Ausbildungen nicht belohnt werden sollen, wenn doch genau diese fehlen. Vielleicht geht es aber auch gar nicht um Qualifikation. Wie bei dem Hersteller mobiler Toiletten aus Coswig, der nach eigenen Worten gar keine qualifizierten Mitarbeiter*innen sucht, sondern nur angelernte Kräfte. Wenig qualifizierte Plastik-Klo-Zusammensetzer*innen haben im Zweifel auch geringere Lohnvorstellungen.

azubi-ablöse a la Bundesliga

Und dann sind da die Azubis. Auch die bleiben nach abgeschlossener Ausbildung nicht mehr automatisch bei ihrem Ausbildungsbetrieb, sondern wählen das jeweils lukrativste Angebot auf dem Markt. Von Azubi-Klau ist die Rede in den Reihen der versammelten Mittelständler*innen. Zu hohe Löhne gebe es in Öffentlichem Dienst und Großkonzernen. Die bildeten oftmals selbst nicht aus, übernähmen aber gern die bei kleinen Unternehmen qualifizierten Kräfte. Noch ein Grund, staatliche Regulierung einzufordern.

Für Fußballfan Linnemann ist klar: Eine Azubi-Ablöse muss her. Fünf Jahre sollen Azubis nach Abschluss ihrer Ausbildung im jeweiligen Betrieb bleiben, schlägt er vor. Wolle ein Unternehmen ausgelernte Azubis eines anderen vor dieser Frist übernehmen, müsse eine Ablöse gezahlt werden. Funktioniert ja auch in der Bundesliga. Dort profitieren von diesem System allerdings in erster Linie finanzstarke Clubs. Die erkaufen sich ihre Tabellenplätze geradezu. Vereine mit schmaleren Budgets, die in Nachwuchsförderung investieren, haben oft genug das Nachsehen. Was diese Quasi-Konzernförderung mit Mittelstandspolitik zu tun hat? Es bleibt ein Rätsel.

Mit Prämien in die planwirtschaft?

Noch rätselhafter wird es, wenn die Mittelstandsmannen Linnemann und Müller zu genau diesem Thema nach Bremen schauen. Dort hat der rot-grün-rote Senat eine Ausbildungsabgabe installiert. Unternehmen aller Größenordnungen zahlen in einen Ausbildungsförderungsfond ein. Wer ausbildet, erhält pro Ausbildungsplatz eine jährliche Fördersumme. Damit soll nicht zuletzt jener „Azubi-Klau“ bekämpft werden, dem Linnemann lieber mit Fußball-Ablöse-Kapitalimus beikommen möchte. Das Bremer Modell gilt den Unionsmittelständlern als Schritt in die Planwirtschaft.

Da wundert es nicht, dass Linnemann nichts von Prämien und Vergütungen für Weiterbildung und Qualifizierung hält. Entweder der Leidensdruck in der Arbeitslosigkeit reicht aus, um entsprechende Maßnahmen zu absolvieren, oder es ziehen die oben skizzierten Zwangsmechanismen. Anders ist es logisch nicht zu erklären, dass er die 2016 vom dritten Kabinett Merkel eingeführte Weiterbildungsprämie (bis zu 2.500 Euro bei Bestehen einer Abschlussprüfung) ablehnt – und damit mutmaßlich auch das von der derzeitigen Regierung etablierte monatliche Weiterbildungsgeld für Bürgergeldbezieher*innen, die eine entsprechende Ausbildung in Angriff nehmen.

zwang und pflicht – helfen nicht

Zusammenfassung: Für Sepp Müller und Carsten Linnemann sind Arbeitszwang und Pflichtdienst wichtiger als marktnahe und an Bedürfnissen der Unternehmen orientierte Maßnahmen zur Förderung von Qualifizierung und Ausbildung. Junge Menschen sollen qua staatlicher Dienstpflicht in Richtung Wohlverhalten eingenordet und zu diesem Zweck erst einmal dem Arbeitsmarkt entzogen werden. Ältere, die Zeit und Mühe in Qualifikationen für neue und bessere Chancen investieren wollen, sollen sich lieber mit Helferjobs begnügen. Konzerne nutzen mittelständische Betriebe weiter als Personallieferanten und bezahlen die Azubi-Ablöse aus der Portokasse.

Und all das ist dann Mittelstandspolitik? Mittelständler*innen, die schon heute kein ausreichend qualifiziertes Personal finden, sähen sich zwangsläufig mit einem noch weiter ausgedünnten Arbeitsmarkt konfrontiert. Fazit: Zwangsdienst und Pflicht, hilft der Wirtschaft nicht.

1. Mai in Dessau: Bilder sagen mehr als Worte

Bilder statt Ansprachen am 1. Mai in Dessau

Das Hauptprogramm bot Grußworte. Im Nebenprogramm tanzten Kinder. Manche Botschaften kamen aber ohne Worte aus. DeRoPolis zeigt, was die lokale Zeitung ignorierte.

Gewerkschaft ist solidarisch

Wie geht Solidarität auf dem Bau? – Ganz einfach: Zusammen arbeiten.

Ohne viele Worte bringt die IG BAU (Industrie-Gewerkschaft Bau-Agrar-Umwelt) am 1. Mai in Dessau praktische Solidarität auf den Punkt.

Motto: Arbeiter*innen kennen keinen Rassismus. Arbeitnehmer*innen stehen zu ihren Kumpeln und Kolleg*innen.

Urteil: Klare Kante gegen Sozialneid und Fremdenfeindlichkeit.

Selten gesehen: Arbeitnehmer der Union

Seltener Gast am 1. Mai: Die CDU.

Die CDA (Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft) war in Dessau vor Ort. Sie bezeichnet sich als gewerkschaftsnah.

Motto: Wer mitreden will, muss dabei sein.

Urteil: Demokratie bedeutet Mitmachen aus Solidarität. Nicht trotz, sondern wegen politischer Unterschiede.

Blaune zu BUGA: Zu viele Blumen

Amtsblatt 05/2023

Ratsfraktion findet Fahren wichtiger als Flora

Blue-Green-Streets. Schon mal gehört oder gelesen? Nein? – Dann schauen Sie mal nach im Amtsblatt der Stadt Dessau-Roßlau, Ausgabe Mai 2023. Einfach als Suchbegriffe Amtsblatt, Name der Stadt und Jahreszahl in eine Internetsuch-maschine eingeben. Gleich die ersten Ergebnisse führen zum Ziel.

Im Amtsblatt Nummer 5 / 2023 blättern Sie zu den „Fraktionsseiten“ und dort zum Beitrag der ihrem Logo nach blauen Partei, deren politische Ausrichtung eher eine Farbgebung vermuten lässt, die an Lehm erinnert. Die Mischung beider Farben lässt sich als „Blaun“ umschreiben.

BUGA-Bewerbung abgelehnt

Der Vorsitzende der blaunen Fraktion, Andreas Mroseck, widmet sich in seinem Beitrag der Bewerbung der Stadt als Standort der Bundesgartenschau (BUGA) 2035 und begründet die Ablehnung der Bewerbung durch seine Fraktion. Alle anderen Fraktionen hatten zugestimmt und wissen dabei die örtliche Wirtschaft hinter sich. Grund genug, einen genaueren Blick auf die Gründe für die Ablehnung und das Konzept „blue-green-street“ (blau-grüne Straßen) zu werfen. An eben diesem Begriff entzündet sich die Empörung der Blaunen.

Blau-Grüne Straßen bedeuteten die Umwandlung von Hauptverkehrsachsen in Blumenbeete, behauptet Mrosek. Die in Nord-Süd-Richtung verlaufende innerstädtische Hauptverkehrsachse (Albrecht- / Kavalier- / Franz- / Heidestraße) sei aber schon heute ein „Nadelöhr“ für den Individualverkehr. Wenn zudem Querverbindungen zwischen Stadtteilen und Ortschaften quasi verbeetet würden, kämen außerhalb der Innenstadt wohnende Dessauer*innen nicht mehr zum Einkaufen. (Roßlauer*innen kommen in Mroseks Ausführungen nicht vor). Schlussfolgerung Mroseks: „Die Innenstadt muss […] befahrbar bleiben!“ Also Nein zur BUGA-Bewerbung.

Asphalt statt blumen

Wir schlussfolgern haarscharf: Wenn Blumen dem Autoverkehr im Wege sind, braucht es mehr Asphalt (wenn man Mrosek und seiner Partei folgt). Und siehe da, wenn die blaune Fraktion dem Projekt BUGA überhaupt noch zustimmen soll, müsse vorher zumindest die sogenannte Nordumgehung gebaut werden. Der stünden zwar ganze Baumbestände im Wege (von schützenswerten Uferbereichen der Mulde samt Überschwemmungsflächen ganz zu schweigen). Aber wer sich vor Begrünung in der Stadt fürchtet, kämpft halt auch gegen Bäume am Stadtrand.

„blue“ statt Dürre und Überschwemmungen

Was uns zurück führt zur Frage nach „blue-green-streets“. Mindestens einen Teil dieser Bezeichnung hat Mrosek entweder übersehen oder die Bedeutung nicht intellektuell umsetzen (sprich: unter Zuhilfenahme des Verstandes verstehen) können. Nämlich das „blue“. Blau steht hier nicht für Kornblumen auf den von Mrosek befürchteten Beeten, sondern für Wasser. Und mit dem hat Dessau in jüngerer Vergangenheit bekanntlich heftig zu kämpfen. Sowohl mit zu viel (Überschwemmungen) wie auch zu wenig (Dürre und Trockenheit bei Stadtgrün und in Parks).

Um Trockenheit und Überflutungen entgegenzuwirken, „(muss sich) Stadtgrün und Überflutungsschutz in den multifunktional genutzten Straßenraum einfügen“, erläutert das Bundesforschungsministerium den Sinn des vom Bund geförderten blue-green-street-Konzepts. Das Projekt solle dazu beitragen, „die Wirksamkeit von Planungsinstrumenten (…) zu grünen städtischen Infrastrukturen, urbaner Wasserwirtschaft, dem Sanierungsmanagement von Straßen und Kanälen sowie der Verkehrs- und Freiraumplanung (…) weiterzuentwickeln.“ Auf diese Weise „(sollen) Straßenräume zukunftsfähig gestaltet werden und so zu Multitalenten der Stadtquartiere werden.“

Entwickelt und vorangetrieben wird das blue-green-streets-Konzept übrigens von der HafenCity Universität (hcu) in Hamburg. Beteiligt sind universitäre und privatwirtschaftliche Forschungseinrichtungen und -institute aus Berlin, Hamburg, Hannover, Hoppegarten und Karlsruhe. Nachzulesen ist das alles online auf der Website des Forschungsprojekts der hcu sowie der Website des Bundesforschungsministeriums zu ressourceneffizienten Stadtquartieren (eben diese Suchbegriffe eingeben).

Dürre im gartenreich

blue-green-streets sind also keine spinnerte Idee der kommunalen Verwaltung. Vielmehr verknüpft das Dessau-Roßlauer BUGA-Konzept die lokale Umsetzung mit einem Projekt des Bundes und erschließt auf diese Weise mutmaßlich Zugang zu KnowHow und Fördergeldern. Und ohne solche Fördergelder wäre eine kontinuierlich eher klamme Kommune wie Dessau-Roßlau kaum in der Lage, ihr innerstädtisches Wassermanagement so zu gestalten, dass ein wichtiges Marken-zeichen des hiesigen Kulturreiches auf Dauer gedeiht statt verdorrt. Gärten und Parks brauchen eben nicht mehr Bodenversiegelung durch Straßen, sondern intelligente Gestaltung des städtischen Umfelds, in dem Feuchtigkeit für Mensch und Umwelt gehalten statt wegasphaltiert werden muss.

Dass solche Konzepte auch die Ertüchtigung des Öffentlichen Nahverkehrs beinhalten, also in Dessau-Roßlau insbesondere die Verbesserungen von Bus- und Straßenbahnverbindungen zwischen Ortschaften und Innenstadt, mit denen auch sehr alte oder sonst wie eingeschränkte Mitbürger*innen die Innenstadt einfach und komfortabel erreichen können, blendet der Blaunen-Vertreter aus. Wahrscheinlich sind ihm Parkplätze unmittelbar vor dem Rathaus auch wichtiger als der ohne Blechlawine unverstellte Anblick historischer Architekturensemble.

Flüchtlinge nur mit Rasenmäher?

Natürlich (Sie, werte Leser*innen, dürfen dieses Wort an dieser Stelle gern als ironisch verstehen…) geht es den Blaunen nicht allein ums Geld. Mindestens so wichtig ist bekanntlich die Frage nach Fachkräften. Um dieselben sorgt sich die Blaune Fraktion beim Gedanken an die Pflege neuer Grünanlagen, die mit der BUGA – man möchte sagen ‚natürlich‘ – entstünden. Für eben diese Pflege fehle es „an Personal und Technik“.

Und aus welchem Grund? Nach Blauen Lesart: Weil „sich unsere zugewanderten ‚Fachkräfte‘ an diesen notwendigen Arbeiten nicht beteiligen werden (Fachkräfte ist im Originalartikel der Blaunen in Anführungsstriche gesetzt, Anmerkung des Verfassers).“ Wenn also die Blumen nicht blühen, sind – wie könnte es aus Perspektive der blaunen Partei anders sein – „Ausländer“ schuld. Am besten wäre es wahrscheinlich, nur noch Flüchtlinge aufzunehmen, die einen eigenen Rasenmäher mitbringen. Dann wäre auch das Technikproblem gelöst… (*Ironie-Modus aus*)

Besch… BUGA?

De facto sei die komplette BUGA-Planung „ein Blick in die Glaskugel“, findet Mrosek, zumal das Problem der Defäkation ungelöst sei. Angesichts fehlender öffentlicher Toiletten bleibe es BUGA-Besuchern wohl de facto vorbehalten, ihr Geschäfte in Dixi-Klos zu verrichten. Sowohl den Bau neuer als auch die Wiederinbetriebnahme bestehender öffentlicher Bedürfnisanstalten hätten die Blaunen im Stadtrat beantragt. Der Antrag sei aber von der Stadtratsmehrheit abgelehnt worden, beklagt Mrosek.

Zwei Fakten verschweigt Mrosek allerdings: 1. Gegen neue öffentliche Klos sprach aus Sicht der Stadtratsmehrheit die Gefahr des Vandalismus. Instandsetzungen zögen unkalkulierbare Kosten nach sich. Diese Kosten lassen sich übrigens nicht aus Glaskugeln, sondern schlicht aus Erfahrungswerten ablesen. 2. Ihrerseits abgelehnt hat die Blaune Fraktion gerade in der jüngsten Stadtratssitzung am 26. Mai 2023 die Errichtung öffentlicher Trinkwasserspender in der Stadt. Grund: Sie befürchtet Vandalismus.

blumenvase vorm Auge

Mein Eindruck von den Ausführungen der Blaunen zur BUGA: Es hat nicht einmal für eine Glaskugel gereicht. Wahrscheinlich hatte Mrosek allein bei „blue-green-street“ nur noch eine Blumenvase vorm inneren Auge. Die hat dann wohl auch die Sicht an der Entstehung der an den Konzepten Beteiligten getrübt: Laut Blauner Fraktion sollen „Planungs- und Ingenieurleistungen im größeren Umfang an auswärtige Büros“ vergeben werden.

Führend beteiligt an der Entstehung des Konzepts zur BUGA 2023 in Dessau-Roßlau waren das Institut für Freizeit- und Tourismusberatung ift GmbH mit Sitz in Köln und Potsdam, die Runze und Caspar Werbeagentur GmbH aus Berlin sowie das Landschaftsarchitektur-Unternehmen SWUP GmbH mit Hauptsitz in Essen. Die an der Entwicklung des blue-green-street-Kozepts Beteilgten sind oben erwähnt. Wie viele „auswärtige Büros“ sollen es denn sein?

Verschwörungsfakten?

Bevor er sich in der vorliegenden Amtsblatt-Ausgabe der BUGA widmet, definiert Mrosek übrigens die von den Blaunen während der Covid-Pandemie pausenlos ventilierten „sogenannten Verschwörungstheorien“ um in „Verschwörungsfakten“.

Fakt ist in Sachen BUGA, dass sich die Blaunen offenbar aufgemacht haben, das Projekt BUGA 2035 in Dessau-Roßlau zur Verschwörung weniger gegen die Interessen jener ummünzen, für eine Stadt vor allem eines sein soll: ein großes Motodrom, das man am besten schnell durchquert oder gleich drumherum fährt. Blumen, Beete, Bäume und BUGA stören da nur. Dass Wissenschaftler*innen aus den Gebieten Stadtplanung und Ingenierwesen das ebenso anders sehen wie jene Bürger*innen, für die Stadt nicht nur aus Einkaufsgelegenheiten besteht, stört wiederum die Blaunen nicht. Wer nicht wissen will, kann Fakten halt auch nicht finden.

Orientierungslos im Stadtverkehr

Amtsblatt 04/2023

CDU-Fraktion surft die Grüne Welle und geht baden

Einem ihrer Lieblingsthemen widmet sich die CDU-Fraktion im April-Amtsblatt – der Verkehrspolitik. Genauer: Voraussetzungen für zügig fließenden (Auto-)Verkehr, die „Grüne Welle“ in der Stadt. Der Versuch, ihre Auto-zentrierte Verkehrspolitik mit einem grünen Anstrich aufzuhübschen, endet allerdings in einem matschigen Gülle-Grün.

Das traditionell beliebte Düngemittel ist längst als Ursache für erhöhte Nitratwerte im Grundwasser entlarvt. Der menschliche Organismus wandelt Nitrat um in Nitrit. Nitrit behindert den Sauerstofftransport des Blutes. Und zu wenig Sauerstoff führt nicht selten zu – gelinde gesagt – unpräzisen gedanklichen Schlussfolgerungen. Wenn dann auch noch die Grundannahmen einer Argumentation eher der Fantasie als der Faktenlage entspringen, ist das Ergebnis eher ein verkehrspolitischer Tsunami. Der Reihe nach:

Von Fahrspuren und Blitzbussen

CDU-Stadträtin Rita Bahn-Kunze findet es doof, dass in Dessau-Roßlau Autofahrer*innen an (gefühlt) jeder Ampel anhalten müssen. Investitionen könnten das Problem aber nicht lösen, weil sie nicht zur Verbesserung des Öffentlichen Personen-Nahverkehrs (ÖPNV) beitrügen („Einfach mehr Geld in die Hand zu nehmen, wird den ÖPNV nicht besser machen.“ – Also einfach weniger Geld ausgeben?) Das Geheimnis um den Zusammenhang von Grüner Welle und Qualität des ÖPNV behält Bahn-Kunze vorsichtshalber für sich.

Vielleicht möchte die CDU-Stadträtin aber an eben dieser Stelle auch gar nicht so genau sein, damit nicht auffällt, dass Vorrangsbehandlung für Busse an Ampeln logisch eigene Busspuren erfordern (denn grüne Bus-Ampeln nützen dem Bus mitsamt Passagieren wenig, wenn Pkw vor dem Bus auf Pkw-Grün warten müssen). Extra Bus-Spuren ließen sich aber nur auf Kosten anderer Fahrspuren einrichten.

Irgendwie scheint sich allerdings auch die CDU-Stadträtin auf einer gedanklichen Geisterfahrt zu wähnen. Ihre Bus-Ampel-Überlegung führt sie nämlich kurzerhand (sozusagen auf der Überholspur) selbst ad absurdum: Folge bevorzugter Grün-Phasen für Busse sei nämlich „eine immerwährende Beschleunigung“ des Busverkehrs . Und solche Blitz-Busse wären dann für Fahrgäste nicht mehr erreichbar, weil ja kein Fahrplan mehr eingehalten würde (quasi die allgemeine Beschleunigungstheorie des ÖPNV: „je grüner desto Wartezeit“ oder so ähnlich).

Gedanken-Vollgas über ROT

Zumindest um eine Antwort auf die Frage der Finanzierung eines neuen Verkehrsleitrechnersystems (VLR-System) ist die CDU-Stadträtin nicht verlegen: Sie behauptet geradewegs und also auf den ersten Blick ohne Ampel und Umleitung, die Stadt entscheide über die Verwendung der über den Fahrscheinverkauf erwirtschafteten Mittel und könne diese ergo nach Belieben für ein VLR-System verwenden. Das aber ist schlicht falsch. Bahn-Kunze überfährt – um im Bild zu bleiben – im gedanklichen Vollgas-Modus eine rote Ampel. Das entsprechende Knöllchen könnte der CDU-Frau der Geschäftsführer der Dessauer Stadtwerke, Dino Höll, austellen.

Höll, als Manager der Dessauer Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft mbH – DVV – Stadtwerke (Sachsen-Anhalt) auch für den Dessauer ÖPNV verantwortlich, war unlängst ausgerechnet beim Kreisverbandes der GRÜNEN in Dessau zu Gast. Der Manager erläuterte, dass die Stadtwerke deshalb relativ flexibel in der Gestaltung ihres ÖPNV-Angebotes seien, weil Überschüsse und Verluste unterschiedlicher Geschäftsfelder des Unternehmens gegeneinander verrechnet würden. Ertragreiche Geschäftsfelder wie die Energieversorgung dienen mithin der innerbetrieblichen Quersubvention verlustreicher Felder. Der Mann wird sich mutmaßlich bedanken, wenn CDU-Fraktion in die Geschäftspolitik der Stadtwerke hinein dilettieren würde.

„Radfahrstreifen so lang wie möglich“

Mutmaßlich hat die CDU aber auch erst einmal genug damit zu tun, Autofahrer*innen zu erklären, woher sie den Platz für „so lang wie möglich“ ausgeführte „Radfahrstreifen“ nehmen will. Laut Allgemeiner Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV zur StVO) Anlage 3 zu Paragraf 42 Absatz 3 der StVO sind Radfahrstreifen mit Zeichen 237 gekennzeichnete und durch Zeichen 295 von der Fahrbahn abgetrennte Sonderwege. Werden Radfahrstreifen an Straßen mit starkem Kraftfahrzeugverkehr angelegt, ist ein breiter Radfahrstreifen oder ein zusätzlicher Sicherheitsraum zum fließenden Verkehr erforderlich. Mit anderen Worten: Viel Platz für Fahrräder, weniger Platz für Autos. Ich persönlich fände das ja gut. Nur überließe ich entsprechende Planungen lieber Leuten, die mutmaßlich wissen, worüber sie reden… Mit den vorliegenden verworrenen verkehrspolitischen Versatzstücken jedenfalls geht die CDU-Fraktion genüsslich im Güllegrün baden.

Bunte Fraktion: Unwirksam aufgeregt

Amtsblatt 03/2023

„Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsanwendung.“

Ausgerechnet die Bunte Fraktion im Dessau-Roßlauer Stadtrat steht mit dem Presserecht auf Kriegsfuß und befördert damit auch noch den Skandal-Modus der AfD. Geht es nach dem Bunten-Fraktionsvorsitzenden Guido Fackiner, soll Oberbürgermeister Reck darüber wachen, dass keine – nun ja – unappetitlichen Inhalte in der städtischen Publikation veröffentlicht werden.

Widerliche Blaune

Auslöser der bunten Rufe nach obrigkeitlicher Aufsicht: Der Februar-Beitrag der AfD-Fraktion. In selbigem hatten die Blaunen (Blau ist bekanntlich die Farbe dieser unter einschlägigem Verdacht stehenden Partei) den in Dessauer Polizeigewahrsam zu Tode gekommenen Oury Jalloh erst als reichlich zwielichtige Person dargestellt, um dann zusammenhangslos von „importierten Messermördern“ zu erzählen.

Die Intention dieser inhaltlichen Verknüpfung ist ebenso offenbar wie widerlich. Rechtlich zu beanstanden ist sie nicht. Noch viel weniger ist der Oberbürgermeister berufen, Verstöße gegen den guten Geschmack zu ahnden oder gar zu verbieten. Denn damit verstieße das Stadtoberhaupt gegen das Presserecht. Rechtsbruch kann aber keine ernsthafte Forderung der grün-liberal geprägten Bunten sein. Die gehen den in diesem Falle geschickt agierenden respektive schreibenden Blaunen ziemlich naiv auf den politischen Leim.

Der Reihe nach: Besagter Blaunen-Beitrag aus dem Februar zur Person Jallohs war im Konjunktiv geschrieben. Formal hat der Verfasser damit nicht seine Ansicht geschildert, sondern Behauptungen anderer wiedergegeben. Rechtlich ist das deshalb bedeutsam, weil es sich nicht um falsche Tatsachenbehauptungen handelt. Denn inwiefern sich die Partei mit dem kleinen f diese Darstellungen zu eigen macht, bleibt formal gesehen unklar.

Recht und Handwerk

Dass Angaben zu den Quellen des Verfassers im Ungefähren bleiben, ist zwar gemessen an den Standards journalistischen Handwerks unschön, aber kein Rechtsverstoß. Die Behauptung, Jalloh könne noch leben, wäre er ausgewiesen worden, zeigt zwar im Kontext der übrigen Ausführungen das miese sprachliche Spiel der Blaunen, ist aber rechtlich nicht zu beanstanden. Der verbleibende Eindruck, dass die blaune Fraktion das Schicksal Jallohs als Rechtfertigung für ihre vergiftete Propaganda benutzt, lässt halbwegs kultivierte Menschen zwar speiübel aufstoßen, nur ist es eben nicht mehr als das – ein fieses Spiel mit Assoziationen vor dem Hintergrund eines nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts wohl nicht mehr endgültig aufklärbaren Todesfalls.

Eklig, findet die Bunte Fraktion (zu Recht). Ihr Ruf nach dem Oberbürgermeister lenkt aber eher vom eigentlichen Problem ab, als dass er hilfreich wäre. Denn der OB schlittert mit der Ausgestaltung des Amtsblatts in der Tat auf rechtlich reichlich dünnem Eis. Eines darf er aber dennoch nicht: Inhaltliche Vorgaben über den gesetzlichen Rahmen hinaus machen. Vielmehr muss der Herausgeber des Blattes – also der OB – für klare Verantwortlichkeiten sorgen. Und die definiert das Pressegesetz.

Pressegesetz

Im Pressegesetz für das Land Sachsen-Anhalt definiert Paragraf sieben (7), wie und wo inhaltliche Verantwortlichkeiten in Druckwerken kenntlich gemacht werden müssen. Im Impressum muss (mindestens) ein(e) verantwortliche(r) Redakteur*in angegeben werden, im Branchenjargon abgekürzt: V.i.S.d.P. (Verantwortliche*r im Sinne des Presserechts).

Verantwortlichkeiten können auch auf mehrere Personen verteilt werden, beispielsweise nach Ressorts oder Themen. Im Falle des Amtsblatts können für die jeweilige Fraktionsseite Verantwortliche pro Fraktion benannt werden. Entscheidend sind dabei zwei Faktoren: Die jeweilige Person muss im Impressum (und nicht irgendwo, auch nicht auf der jeweiligen Fraktionsseite) benannt sein und die Verantwortlichkeit muss eindeutig zugeordnet sein.

Sinnfreie Verweigerung der Verantwortung

In die Sphäre der Sinnfreiheit begibt sich stattdessen die Stadt Dessau-Roßlau. Unter den Fraktionsseiten ist jeweils zu lesen: „Für die sachliche und fachliche Richtigkeit aller Angaben auf den Fraktionsseiten übernimmt die Stadtverwaltung als Herausgeberin des Amtsblattes inhaltlich keine Gewähr und behält sich gegebenenfalls die Möglichkeit zur Richtigstellung vor.“ Lateinkundige erkennen eine Contradictio in adiecto, also einen Widerspruch in sich: Entweder die Stadt übernimmt keine Gewähr, oder sie ist für Richtigstellungen verantwortlich.

Inhaltliche „Richtigstellungen“ von Texten, für die die richtigstellende Instanz gar nicht verantwortlich ist, kämen willkürlichen Eingriffen in die Meinungsfreiheit der Verfasser*innen der jeweiligen Texte gleich. Denn die Kompetenz zur Richtigstellung im Sinne der inhaltlichen Verantwortung lehnt der Herausgeber ja gerade ab. Inhaltliche „Richtigstellungen“ der Meinungsäußerungen der Fraktionen wären dem willkürlichen Gutdünken der Stadtverwaltung respektive des Oberbürgermeisters unterworfen.

Zur Rechtfertigung dieser amts- respektive stadtratsgemachten Verwirrung mag man auf das (sogenannte) Redaktionsstatut zum Amtsblatt verweisen. Am 22. Oktober 2019 hat der Stadtrat beschlossen, dass

„Beiträge für die Fraktionsseiten des Amtsblattes dann nicht veröffentlicht werden, wenn sie

– offenbar unwahr sind

– ehrverletzend bzw. beleidigend sind

– die öffentliche Verwaltung herabwürdigen oder

– gegen die Sitten verstoßen.

Die Entscheidung darüber, ob diese Kriterien erfüllt sind, trifft der Oberbürgermeister. (…) Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes ist seitens der Fraktion der jeweils zu benennende Autor.“

Jurist*innen stehen dabei sämtliche rechtlich relevanten Haare zu Berge. Ein Redaktionsstatut hat nämlich keine rechtliche Bindung – abgesehen vom Arbeitsrecht. Es regelt die Mitwirkungsrechte der Redaktionsmitglieder an der inhaltlichen Ausgestaltung einer Publikation. Klassisch definiert ein solches Statut die Unabhängigkeit der Redaktion vom Herausgeber, sofern in den Arbeitsverträgen der Redakteur*innen nichts anderes geregelt ist.

Das Gesetz

Es bleibt die Frage, was das Ganze eigentlich soll. Augenscheinlich wollen sich Stadträt*innen, Oberbürgermeister und Verwaltung vor rechtlichen Konsequenzen schützen. Es könnte ja mal jemand auf die Idee kommen, das Amtsblatt zu verklagen. Wegen Beleidigung oder sonst welchen Delikten. Das Pressegesetz Sachsen-Anhalts definiert die Haftungsfrage in entsprechenden Fällen in Paragraf zwölf:

„§ 12

Strafrechtliche Verantwortung

Ist durch ein Druckwerk eine rechtswidrige Tat begangen worden, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, und hat

1. bei periodischen Druckwerken der verantwortliche Redakteur

oder

2. bei sonstigen Druckwerken der Verleger

vorsätzlich oder fahrlässig seine Verpflichtung verletzt, Druckwerke von strafbarem Inhalt freizuhalten, so wird er mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, soweit er nicht wegen der Tat schon nach den allgemeinen Strafgesetzen als Täter oder Teilnehmer strafbar ist.“

Verantwortliche Sachbearbeiterin?

Doof nur, dass die genannten Personen (Redakteur*in und Verleger*in – ersatzweise Herausgeber*in) im bereits behandelten Impressum genannt sein müssen. Dort steht im hiesigen Amtsblatt aber nur als Redakteurin die in der Verwaltung zuständige Sachbearbeiterin. Die wird sich gegebenenfalls bedanken…

Irgendwie ist das Ganze possierlich: Im Stadtrat ja durchaus vertretene Rechtsanwälte stören sich nicht an der bisherigen, allerdings im Rechtssinne unwirksamen Konstruktion. Die Bunte Fraktion echauffiert sich zwar im Amtsblatt, lässt aber jegliche politisch oder rechtlich relevante weitere Initiative vermissen. Dabei wäre es so einfach: Ein Blick ins Gesetz offenbart die Rechtslage und deren Anwendung. Die Blaunen wären mit einem ordentlichen Impressum tatsächlich verantwortlich für ihre Beiträge (wie auch alle andereren Fraktionen für die jeweiligen ihrigen) und die arme Sachbearbeiterin im Rathaus wäre aus dem sprichwörtlichen Schneider.

DeRoPolis fragt nun nach und hält Sie auf dem Laufenden. Bleiben wir optimistisch.

Update 29. April 2023 – Fackiner: „Artikel soll sensibilisieren“

Guido Fackiner, Vorsitzender der Bunten Fraktion im Dessau-Roßlauer Stadtrat, erklärte auf Nachfrage, der Beitrag auf den Fraktionsseiten des Amtsblatts der Stadt im März 2023 solle „sensibilisieren“.

Am Rande der Stadtratssitzung vom 26. April 2023 fragte ich den Bunte-Fraktionsvorsitzenden, ob die Fraktion über den genannten Artikel hinaus gehende Initiativen ergriffen habe oder ergreifen wolle, um unappetitliche, beleidigende oder gar Rechtsnormen verletzende Artikel auf den Fraktionsseiten des Amtsblatts zu verhindern. Fackiner gab zu verstehen, dass er dem Rechtsamt vertraue und insofern davon ausgehe, dass das Amtsblatt mit seinen Inhalten dem Presserecht entspreche. Im Übrigen habe er mit dem Artikel „sensibilisieren“ wollen (mutmaßlich den Oberbürgermeister – die Blaune Fraktion wohl eher nicht). Weitere Schritte seien nicht geplant.

Na, dann bin ich auf die Antwort der Stadtverwaltung auf meine entsprechende Nachfrage bezüglich der Rechtskonformität der bisherigen „Regelung“ gespannt.

Roland Bösker