Regenbogenschule: Reck weiß nichts von OB-Vorlagen

Der OB kennt keine Vorlagen, die Verwaltung präsentiert falsche Kosten, Förderprogramme ignoriert man

Robert Reck weiß von nichts. Er wisse nicht, warum für die neue Regenbogenschule 78 Quadratmeter große Klassenzimmer vorgesehen sind, sagt er der örtlichen Zeitung. Das „enorme Raumprogramm“ der vorliegenden Planungen wolle er deshalb „hinterfragen“. Über den Platzbedarf habe man sich noch nicht unterhalten. Eingebrachte Vorlagen des Oberbürgermeisters beweisen das Gegenteil. Sie waren Grundlage für den Stadtratsbeschluss Bernburger Straße.

Reck will die Regenbogenschule am bisherigen Standort erhalten. Schwerst körperlich beeinträchtigte Schüler*innen will er während der Umbauphase in einen Ausweichstandort verfrachten, für „ein bis zwei Jahre“. Nach der Umbauzeit sollen die Kinder am alten Standort in kleineren Räumen unterrichtet werden als im bisherigen Konzept geplant.

DeRoPolis dokumentiert die bisherigen Vorgänge und die Aktenlage.

Februar 2022: Kriterien für Standort

8. Februar 2022. Der Stadtrat berät die Beschlussvorlage mit der Drucksachennummer BV/387/2021/V-40. Einreicher: Der Oberbürgermeister. Seit August 2021 Robert Reck. Gegenstand der Vorlage: Eine „wirtschaftliche Untersuchung eines neuen Standortes für die Schule für Geistigbehinderte (Regenbogenschule)“. Die Studie soll im August des selben Jahres vorliegen. Der Stadtrat stimmt zu.

Anlage 3 zur Beschlussvorlage aus Februar 2022: Eine tabellarische Aufstellung der „Kriterien für Standortentscheidung (Stand: 07.12.2021)“. Darin aufgeführt: Die Größe der infrage kommenden Grundstücke. Am bisherigen Standort Breite Straße 8.358 Quadratmeter. An der Bernburger Straße 21.904 Quadratmeter. An beiden Standorten liegt je ein „städtebaulicher Missstand“ vor. Zum Punkt „Planungsrecht“: Voraussetzungen für Bauvorhaben sind an beiden Standorten gegeben. Für die Bernburger Straße führt die Tabelle zusätzlich den Punkt „Quartierskonzept Leipziger Tor“ an; „Ziel: Quartiersbezogene Angebote der Grundschulbildung und für das Gemeinwesen“.

Sporthalle und Teilhabe

An beiden Standorten muss laut Anlage jeweils eine neue Sporthalle gebaut werden. Die Doppelnutzung der Sporthalle am Friederikenplatz sei am Standort Breite Straße nicht ausreichend. An der Bernburger Straße ist eine „Sporthallenruine auf dem Grundstück“ vorhanden. Um den Sportplatz am Friederikenplatz zu erreichen, müssen Schüler*innen rund einen halben Kilometer zurücklegen. Auf dem Gelände an der Bernburger Straße ist ein Sportplatz vorhanden.

Auch kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe soll den Kindern am jeweiligen Schulstandort möglich sein. Von der Breiten Straße aus soll dies laut Tabelle mittels der Nähe der Zerbster Straße (ca. 540 Meter Entfernung) gewährleistet sein. An der Bernburger Straße liegt in 350 Metern Entfernung der Thomas-Müntzer-Jugendclub.

Prüfergebnis unter Berücksichtigung aller betrachteten Faktoren laut der vom Oberbürgermeister eingebrachten Beschlussvorlage: Breite Straße – nicht geeignet. Bernburger Straße – geeignet.

April 2023: Studie im Stadtrat nicht bekannt

April 2023. Die örtliche Presse berichtet von Unmut seitens Stadträtinnen und -räten im Hauptausschuss. Grund: Dem Stadtrat ist die per Beschluss vom Februar 2022 (siehe oben) beauftragte Machbarkeitsstudie zum neuen Standort der Regenbogenschule nicht bekannt.

Mai 2023: Breite Straße nicht vertretbar

Mai 2023. Im Ausschuss für Gesundheit, Bildung und Soziales reicht der Oberbürgermeister Drucksache Nummer IV/026/2023/IV-40 als Vorlage ein. Titel: „Sachstand zur Standortentscheidung Förderschule für Geistigbehinderte.“ Thema: „Die Stadtverwaltung informiert über den Sachstand des Standortvergleichs sowie über neue Erkenntnisse und die daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen.“

Fazit der Verwaltung: Am Standort Breite Straße „ist eine vollständige Unterbringung des Raumprogramms (…) aus städtebaulichen und stadtökologischen Gründen nicht vertretbar“. Der Bau würde den durchgängigen Grünzug am Friederikenplatz „zerschneiden“. Fördermittel beispielsweise vom Land könnten nur in Anspruch genommen werden, wenn zuvor das Integrierte Stadtentwicklungskonzept und der Fördergebietskulisse angepasst werden. Klimaneutrale Bauweise sei nur eingeschränkt möglich. Der Baugrund berge Risiken.

Zum Standort Bernburger Straße schreibt die Verwaltung: „(…) ist für die geplante Nutzung sehr gut geeignet.“ Vorteile seien insbesondere, dass Schulgebäude und Sportanlagen auf einem Grundstück lägen, die Gebäude klimaneutral konzipiert werden könnten und keine Interimsunterbringung der Schüler*innen notwendig wäre.

40 Millionen Euro kosten

Für „alle betrachteten Varianten“ (also beide hier angesprochenen Standorte) lägen die Kosten bei rund 40 Millionen Euro zuzüglich rund vier Millionen Euro für klimagerechte Bauweise. Bis zum Jahr 2026 habe die Stadt 15 Millionen Euro eingeplant. Förderprogramme seien nicht vorhanden. Im ungünstigsten Falle müsse die Stadt die komplette Summe selbst aufbringen. Das klingt erst einmal sehr pessimistisch.

Aber die Verwaltung schreibt weiter: „Im weiteren Verfahren müssen eventuelle städtebauliche, energetische und schulbauliche Finanzierungsmöglichkeiten über Land und Bund weiter intensiv verfolgt werden.“ Denn sie sieht „für den Standort Bernburger Straße gute Fördermöglichkeiten im Rahmen der Städtebauförderung („Sozialer Zusammenhalt“) und auch für nachhaltiges, klimaneutrales Bauen“. Die Lage ist also zumindest nicht hoffnungslos.

Vergleichen und sparen

Hoffnung hegt die Verwaltung insbesondere hinsichtlich der Gesamtbaukosten. Die sollten reduziert werden. Dazu „wurde die Aufgabenstellung noch einmal grundsätzlich hinterfragt, um mögliche Einsparpotentiale aufzeigen zu können.“ Zum Hinterfragen gehöre „eine Betrachtung von Neubauten in anderen Gemeinden“ sowie „eine Überprüfung der Flächen- und Kostenkennziffern“. Mit anderen Worten: Schauen, was andere machen und selbst kleiner und billiger bauen.

Vier Bauvorhaben für Förderschulen führt die Verwaltung auf. In Senftenberg, Cuxhaven, Celle und Berlin. Jedes einzelne weist eine kleinere Baufläche auf als für die Regenbogenschule (10.000 Quadratmeter) geplant. Das mit 4.500 Quadratmetern kleinste Vergleichsprojekt in Cuxhaven ist mit 38 Millionen Euro (Stand 2023) das teuerste.

Referenzobjekt zu billig veranschlagt

Als Referenzprojekt ausgewählt hat die Verwaltung die zum Zeitpunkt der Vorlage im Bau befindliche Panke-Förderschule Berlin mit 8.700 Quadratmetern Baufläche und Kosten von angeblich nur 27,5 Millionen Euro. Die Verwaltung merkt dazu an: „In einem Zeitungsartikel war von erheblichen Mehrkosten zu lesen, dem konnte aber noch nicht weiter nachgegangen werden.“

Die angegebene Summe stammt aus der Auslobung des Bauprojekts aus dem Jahre 2017. Am 8. Juni 2023 veranschlagt das Bezirksamt Pankow in Berlin die Baukosten für die Panke-Schule in einer Pressemitteilung zur Eröffnung der Schule mit 47 Millionen Euro. Die Dessau-Roßlauer Verwaltung will im März 2023 nicht gemerkt haben, dass Kosten für die Schule in Berlin seit 2017 um 20 Millionen Euro gestiegen sind und rechnet und vergleicht fröhlich mit einer Fantasie-Summe. Dazu später mehr.

eigentlich unvergleichbar

So richtig vergleichen könne man die Berliner Schule aber sowieso nicht mit der Regenbogenschule. Denn in Berlin Pankow werden keine Schüler*innen unterrichtet, die aufgrund schwerer körperlicher Beeinträchtigungen auch im Klassenraum in Spezialbetten liegen müssen. In Pankow wurden deshalb von vornherein kleinere Räume geplant. Günstiger sind die aber auch nur, wenn man die von der Dessau-Roßlauer Verwaltung um schlappe 20 Millionen Euro zu billig angesetzten Kosten zugrunde legt.

Juni 2023: Stadtratsbeschluss

Juni 2023. Der Stadtrat beschließt: An der Bernburger Straße soll ein Neubau für die chronisch überlastete Regenbogenschule entstehen. Grundlage des Beschlusses ist die von OB Reck initiierte Studie zur wirtschaftlichen Machbarkeit.

Juli 2023: Widerspruch des OB

Juli 2023. Oberbürgermeister Reck legt Widerspruch gegen den Beschluss des Stadtrates ein. Kommunalverfassungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt, Paragraf 65, Absatz 3: „Der Hauptverwaltungsbeamte muss Beschlüssen der Vertretung widersprechen, wenn er der Auffassung ist, dass diese rechtswidrig sind. Er kann Beschlüssen widersprechen, wenn diese für die Kommune nachteilig sind.“ Reck begründet seinen Widerspruch zunächst nicht.

August 2023: Reck kennt eigene Vorlage nicht

August 2023. Laut Bericht der örtlichen Zeitung weiß OB Reck nicht, warum die Ersteller der Machbarkeitsstudie zur Regenbogenschule die Größe der Sporthalle „über dem geforderten Maß“ angesetzt hätten. Wieso die Studie mit einer Klassenraumgröße von 78 Quadratmetern (dem laut Zeitungsbericht „oberen Rand der Vorgabe“) geplant habe, weiß Reck auch nicht. Sagt er jedenfalls der Zeitung. Also der Öffentlichkeit. Die Zeitung zitiert Reck mit dem Satz „Da müssen Sie diejenigen fragen, die die Studie gemacht haben.“

Kennt Reck die Vorlagen seines eigenen Hauses nicht? Der besagten Drucksache Nummer IV/026/2023/IV-40 liegt die Studie der beauftragten arc architekturconzept GmbH aus Magdeburg bei (Anlage 2 Studie). Auf Seite 11 führt die Studie unter der Überschrift „Zusatzinformation zur Aufgabenstellung: Neue GB-Schule“ (GB steht augenscheinlich für Geistigbehinderte): „Anzahl der zu schaffenden Klassenräume: 20. Größe: Ca. 80 m2 je Raum, quadratische Grundfläche bevorzugt, 9m x 9m“ – und neun mal neun Meter ergibt sogar 81 Quadratmeter. Herr Reck wusste das nicht?

Auf der selben, von den Erstellern der Studie als Kopie eingefügten Seite: „Jede Klasse benötigt einen zugehörigen Lagerraum. (Teilung zwischen zwei Klassen möglich.) Größe: ca. 20 m2“ (Hervorhebungen im Original). Wer diese Zusatzinformationen verfasst hat, geht aus der Unterlage nicht hervor. Die Studienersteller waren es offensichtlich nicht. Auf den Seiten 12 bis 15 folgt ein Schreiben mit dem Titel „Kriterien zur Standortwahl Regenbogenschule. Förderschule für Geistigbehinderte“ auf dem Briefpapier der Schule, mit Namensangabe der Schulleiterin, datiert auf den 14.10.2021. Herr Reck wusste das nicht?

Landesschulamt: Stempel für Raumprogramm

Nach der Kapitelüberschrift „02 Anerkanntes Raumprogramm“ auf Seite 18 führt die Studie auf den Seiten 19 bis 23 das „Raumprogramm“ der neuen Regenbogenschule tabellarisch und mit einer ergänzenden Skizze versehen auf. Jede einzelne Seite ist abgestempelt vom „Landesschulamt, Nebenstelle Dessau-Roßlau, Nantegasse 6, 06844 Dessau-Roßlau“. Die Größe jedes einzelnen Klassenraums ist mit 78 Quadratmetern angegeben. Herr Reck wusste das nicht?

Robert Reck sagt der Zeitung laut Bericht vom 26. August 2023, man sei „noch nicht einmal ins Gespräch über die Größe der Schule gekommen“ und fordert, „das enorme Raumprogramm zu hinterfragen“. Der skizzierten Aktenlage nach bestand der einzige Grund, etwas zu hinterfragen, in dem angenommenen, aber nicht existenten enormen Kostenunterschied zwischen der Dessau-Roßlauer Kalkulation und jener der Berliner.

Berlin: 20 Millionen mehrkosten verschwiegen

Nur war die Kalkulation aus Berlin eben schon lange Makulatur und wich von vornherein von dem hiesigen Konzept ab, weil in Berlin schlicht keine größeren Räume gebraucht wurden und werden. Es liegt der Verdacht nahe, mit der Hinterfragerei sollen Stadtrat und Öffentlichkeit hinter die Fichte geführt werden.

Unverdrossen behauptet Reck, eine Verlegung der Regenbogenschule an die Bernburger Straße schade der (Innen-)Stadt, weil dann an der Breiten Straße ein Leerstand entstehe. Laut Anlage 3 zur Drucksache BV/387/2021/V-40 aus Februar 2023 ist aber auch der derzeitige Zustand des Areals an der Bernburger Straße ein „städtebaulicher Misstand“. Der würde mit dem Neubau beseitigt. Profitieren würde davon das Quartier Leipziger Tor. Dessen Entwicklung ist angeblich ein Schwerpunkt in der Stadtentwicklung.

Eigentümer zeigt interesse, Reck will

Nicht profitieren würde vom Standort Bernburger Straße allerdings „der Eigentümer von Nachbargrundstücken der Breiten Straße“. Dieser nicht näher bezeichnete Eigentümer hat laut Drucksache Nummer IV/026/2023/IV-40 aus Mai 2023 „Interesse an einer gemeinsamen Entwicklung des Standorts signalisiert“. Die Stadtverwaltung werde deshalb im Gespräch mit diesem Eigentümer „bislang nicht bekannte Synergien“ ausloten. Aber: „Andererseits würde der Erwerb von Grundstücken zu zusätzlichem Zeitaufwand führen und weitere Kosten verursachen.“ All das steht im Papier der Verwaltung.

Bei diesem Eigentümer kann es sich nur um die stadteigene Dessauer Wohnungsbaugesellschaft GmbH (DWG) handeln (DeRoPolis berichtete). Andere Wohnungsunternehmen mit Bestand in der Nachbarschaft bestreiten vehement, Wohnungsblöcke verkaufen zu wollen. Das Platzproblem der Schule an der Breiten Straße ist damit quasi unlösbar.

Rechtswidrig ist der Beschluss des Stadtrates zum Neubau an der Bernburger Straße offenbar nicht. Die Planungen sind mitsamt der von Robert Reck bemängelten Raumgröße schlüssig gemäß pädagogischen Notwendigkeiten dargelegt. Das Landesschulamt hat das Ganze billigend zur Kenntnis genommen (siehe oben). Laut Kommunalverfassung muss Reck also nicht widersprechen. Er will es.

drei Faktoren

Recks Wille zum Widerspruch kann rational nur mit drei Faktoren erklärt werden, aus denen er Nachteile für die Stadt ableitet: 1. Er nimmt an, dass in Dessau-Roßlau im Vergleich zu den angenommenen Kosten für die eigentlich als Vergleichsobjekt ungeeignete Schule in Berlin zu teuer kalkuliert wurde. 2. Er will Leerstände in Innenstadtnähe um jeden Preis vermeiden, um sein Wahlversprechen der Förderung der Innenstadt zumindest pro forma zu erfüllen. 3. Er will den Schulneubau an der Breiten Straße als Beitrag zur Sanierung der DWG nutzen, denn die könnte weitgehend leerstehende Wohnungsblöcke günstig an die Stadt, ihre Eigentümerin verscherbeln.

Faktor 1. läuft ins Leere, weil die Verwaltung ohne weitere Prüfung von einem viel zu geringen Kostenansatz für die Vergleichsschule in Berlin ausgegangen ist. Tatsächlich ist die dortige kleinere Schule Stand heute teurer als die für die neue Regenbogenschule veranschlagte Summe. Faktor 2. zeigte Recks Desinteresse an der Entwicklung des Quartiers Leipziger Tor, das von der Schule an der Bernburger Straße nachhaltig profitierte. Faktor 3. bewiese ein rein technokratisches Verständnis von Stadtentwicklung, in dem Kinder und pädagogische Notwendigkeiten bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen.

Studie: Sieben Förderprogramme

Wenn Einzelheiten zum Schulneubau der Regenbogenschule bislang nicht ausreichend gewürdigt worden sind, gilt das augenscheinlich vor allem für mögliche Förderungen des Baus mit Landes- und Bundesmitteln. Sieben (als Ziffer: 7) Förderprogramme führt die Machbarkeitsstudie auf Seite 52 an, versehen mit der Anmerkung „Zuarbeit Klimaschutzmanager der Stadt Dessau-Roßlau“.

Die Programme sind allesamt für die Förderung klimaneutraler Bauten gedacht. Zum Tragen kämen die entsprechenden Zuschüsse vor allem bei einem Neubau am Standort Bernburger Straße. Denn in der Breiten Straße ließe sich klimaneutrale Bauweise laut Machbarkeitsstudie nur unzureichend realisieren.

Kennt Reck auch diese Empfehlungen aus seiner Verwaltung nicht? Oder ignoriert er sie, weil die Zuschüsse eben am ehesten an der Bernburger Straße fließen würden? Wie dem auch sei, angesprochen hat Reck diese Finanzierungsmöglichkeiten jedenfalls bislang öffentlich nicht. Vergäbe der Oberbürgermeister diese Chancen, Gelder für die Stadt zu sichern, wäre das auf jeden Fall ein Nachteil für die Stadt – und für die Kinder.

Recks Rechtsauffassung

Es bleibt die Frage, ob auch Recks Interpretation der rechtlichen Grundlagen für seinen Widerspruch auf Unwissenheit beruht oder er sich absichtlich im Ungefähren bewegt. Gegenüber der örtlichen Zeitung gibt der OB zu verstehen, er müsse seinen Widerspruch „aus rechtlichen Gründen“ aufrecht erhalten – schreibt jedenfalls das Blatt. Gleichsam wolle Reck aber nicht durch alle Instanzen gehen. Als ob es dem OB obliegt zu bestimmen, bis zu welchem Grad öffentliches Recht gilt.

Wenn ein Ratsbeschluss rechtswidrig ist, muss der OB als Hauptverwaltungsbeamter Widerspruch einlegen, sagt die Kommunalverfassung. Täte er es nicht, verletzte er seine Dienstpflicht. Ein solcher Rechtsverstoß muss von Amts wegen verfolgt und korrigiert werden. Politischen Spielraum gibt es dabei nicht.

Politisch nackig

Macht der OB aber von seinem Kann-Recht zum Widerspruch Gebrauch, weil er einen Ratsbeschluss politisch als nachteilig bewertet, muss sich der Stadtrat erneut mit der Thematik befassen und kann den OB überstimmen. Dann gibt es keinen Rechtsweg und keine Instanzen. Dann ist es Politik. Ein überstimmter OB hat sich im Zweifelsfall schlicht politisch entblößt. Und sei es, weil er die Vorlagen der eigenen Verwaltung unter Nichtwissen verbucht.

Recks gnädige Ankündigung, seinen Widerspruch nicht „durch alle Instanzen“ – die es in dieser politischen Causa offenbar gar nicht gibt, denn Rechtsinstanzen kommen angesichts fehlender Rechtsverletzung ga nicht zum Tragen – zu verfolgen, ist eine rhetorische Nebelkerze. Der Nebel des angeblichen Nichtwissens soll seine politische Blöße verhüllen. Bleibt zu hoffen, dass der Stadtrat das Nebelhorn erklingen lässt, das dem OB Orientierung bietet.

Eis wächst, Hirn schmilzt – AfD-Propaganda mit amtlichem Segen

Mrosek, Eis und Klimawandel – Propaganda, Stadt und Verantwortung – Wachsendes Eis, schmelzender Verstand

Die Blaunen, von denen hier die Schreibe ist, sind jene Partei, die im Logo an der Farbe Blau und hinsichtlich ihrer politischen Ausrichtung an einer an Erdtöne erinnernden Farbe zu erkennen ist.

Das Amtsblatt der Stadt Dessau-Roßlau, auf das sich dieser Beitrag bezieht, finden Sie in Ihrem Briefkasten oder online – einfach per Suchmaschine nach Amtsblatt und Ort suchen.

Die Blaune Partei ist lernfähig. Zumindest in Dessau-Roßlau. Solch eine Feststellung hätten Sie, werte Leser*innen nicht auf diesem Blog erwartet? Nun, wir müssen ja nicht nur den Tatsachen in die Pupille blicken, sondern neben gutem Willen auch pädagogische Grundsätze berücksichtigen. Und die besagen nun einmal, jeder Kritik sollte ein Lob vorgeschaltet werden. Schon wegen der Erwartungshaltung der Angesprochenen. Die soll quasi geöffnet werden, um der Erkenntnis den Weg zu bahnen. Das gilt übrigens nicht nur für die Blaunen-Beiträge im städtischen Amtsblatt, sondern auch für dessen Herausgeberin, die Stadtverwaltung. Dazu später mehr.

Die Erde ist rund!

Worin also besteht der Erkenntniszuwachs bei den Blaunen, namentlich bei ihrem örtlichen Führer, dem Vorsitzenden der Blaunen Stadtratsfraktion Andreas Mrosek? (*Trommelwirbel*)

Die Erde ist rund! Der gelernte Nautiker Mrosek – alias Käpt’n Blaunbär – hat erkannt: Die Erde ist ein Ball. Wer nach Süden fährt und die Reise lange genug geradeaus fortsetzt, kommt sozusagen mit kleinem Umweg irgendwann am Nordpol an. Nun gilt es nur noch, an Feinheiten zu feilen. Im vorliegenden Fall an der Vorsilbe „Ant-“. Die wechselt nämlich auch bei einer in Richtung Süden beginnenden und in der Arktis endenden Erdumrundung weder Bedeutung noch Polkappe.

Nordpol? Südpol? Hauptsache Eis.

Bitte was? Nun ja, wir müssen uns wohl kurz in eine von alternativen Fakten geprägte Gedankenwelt versetzen: Getreu dem Motto „egal, ob Nord oder Süd, Hauptsache Eis“ zitiert Mrosek in der August-Ausgabe des örtlichen Amtsblatts eine Studie der European Geosciences Union (EGU). Sie belege, dass es den Klimawandel nicht gebe. Angeblicher Beweis: Die Fläche des arktischen Eises (also am Nordpol) sei seit 2009 um 5.305 Quadratkilometer gewachsen und habe 661 Gigatonnen Masse zugelegt, schreibt Mrosek.

Das ist Nonsens. Die EGU hatte die Eismassen der Antarktis (Südpol) untersucht. Zwar stimmen die von Mrosek zitierten Zahlenangaben zu Wachstum von Masse und Fläche des Eises. Die geografische Zuordnung ist jedoch ebenso falsch wie der vom blaunen Unterführer konstruierte Zusammenhang zur angeblich nicht vorhandenen Erderwärmung. Die Behauptung, die Studie widerlege den Klimawandel, ist reine Fantasie. Was aber stimmt?

Kalbende gletscher

Auf der frei zugänglichen Wissenschaftswebsite „copernicus.org“ stellt die EGU eine Studie vor, die die wissenschaftliche Methodik zur Messung und Bewertung des Abbruchverhaltens antarktischer Eismassen untersucht. Hintergrund: Von polarem Eis (egal ob am Nord- oder Südpol) abbrechende Eisberge (Glaziologen sprechen vom Kalben der Gletscher) schmelzen relativ schnell ab und tragen zum Steigen der globalen Meerespegel bei. Wichtigste Erkenntnis der Forscher*innen: Um valide Aussagen über den langfristigen Einfluss des Kalbungsverhalten treffen zu können, müssen bislang kaum berücksichtigte Daten aus der Beobachtung der Pole per Satellit ausgewertet und in neue Berechnungsmodelle übertragen werden.

Für den Zeitraum 2009 bis 2019 haben die Forscher*innen entsprechende Daten zur Entwicklung des gesamten antarktischen Eisschildes ausgewertet. Eine laut Studie neue Methode. Üblich sei bislang die Betrachtung einzelner, regionaler Eisplatten. 34 Eisschelfe wurden binnen der zehn Jahre untersucht. Allein 2017 seien 5.917 Quadratkilometer Eis bei einer einzigen Kalbung des Larsen-C-Schelfs im Weddel-Meer abgebrochen. Der entstandene und seither abschmelzende Eisberg war doppelt so groß wie das Saarland. Zahlreiche Medien berichteten auch in Deutschland über das Ereignis.

Gelegenheit macht Eisberge

Insgesamt allerdings seien Masse und Fläche des gesamten antarktischen Eises im fraglichen Zeitraum tatsächlich um die oben genannten Werte gewachsen.

Betrachten wir diese Entwicklung mit ein bisschen Logik und Grundkenntnissen aus dem Matheunterricht der Mittelstufe: Wächst eine Fläche, vergrößert sich ihr Umfang. Mit dem Flächenwachstum des antarktischen Eispanzers geht die Vergrößerung seines Umfangs einher. Ergo verlängert sich die Eisküste, von der Eisberge abbrechen können. Die Wahrscheinlichkeit wächst, dass Schelfe kalben und riesige Eismassen immer schneller abtauen. Vor allem in der Westantarktistark. Die dortigen Seegebiete erwärmen sich besonders rasant. Grund sind offenbar Tiefenströmungen im Meer. Diese Erwärmung haben Wissenschaftler*innen des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung schon 2014 nachgewiesen und betrachten sie als Folge des Klimawandels. Gerade die kurzfristig gewachsende Eisfläche erhöht also den Abschmelzbeitrag zum steigenden Meeresspiegel. Gelegenheit macht Eisberge. Nach 2019 erhobene Daten belegen die Richtigkeit dieser Schlussfolgerung.

2023: Spektakulärer Verlust an Eis

Keine einzige Silbe der EGU-Forscher*innen legt nahe, die binnen zehn Jahren gemessene Zunahme der gesamten antarktischen Eismasse widerlege den Klimawandel. Dafür wäre der Betrachtungszeitraum viel zu kurz. Globale Entwicklungen spielen sich nicht binnen eines willkürlich gewählten Jahrzehnts ab. Deshalb schlägt die Studie vor, die vorgestellte wissenschaftliche Methodik auf längere Zeiträume anzuwenden und dafür ältere Daten aus der Satellitenbeobachtung auszuwerten.

2022 wich die Eismasse in der Antarktis bereits erheblich vom Durchschnittswert ab – nach unten. Der Eispanzer war merklich geschrumpft. Seit Mitte Mai 2023 ist im Vergleich zum Mittelwert früherer Jahrzehnte um ein Vielfaches weniger Eis in der Arktis vorhanden – und der Trend setzt sich ausweislich jüngster Daten immer schneller fort. „Spektakulär“ und „beunruhigend“ findet das der Bremer Professor für Meereseisphysik Christian Haas laut jüngster Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung. Ein Zusammenhang zum Klimawandel sei nicht auszuschließen.

Käpt’n Blaunbärs Eisbärenfell

Käpt’n Blaunbärs (Mrosek ist Nautiker) angeblich wissenschaftlich fundierte Behauptung, das offenbar nur temporäre Wachstum des Eisschildes widerlege den Klimawandel, ist sozusagen am Eisbärenfell herbeigezogen. Wobei: Eisbären leben in der Arktis. In der Antarktis gibt es Pinguine.

Am Rande: Mrosek war nach eigenen Angaben von 1989 bis 1995 „auf verschiedenen Seeschiffen“ mit „Verantwortung“ eingesetzt. Von 2007 bis 2016 war er Kanalsteuerer (eine Art Lotse) auf dem Nord-Ostsee-Kanal). Das war wohl auch besser, denn auf dem Kanal musste er nur zwischen West und Ost navigieren. Mit der Unterscheidung zwischen Nord und Süd hat er ja offenbar Schwierigkeiten.

Erst abgelehnt, dann veröffentlicht

Anlass für die Publikation von Mroseks August-Einlassungen zum angeblichen Beweis des Nichtvorhandenseins des Klimawandels ist ausgerechnet die Ablehnung eines entsprechenden Beitrags für die Juli-Ausgabe des Amtsblatts: Die Stadtverwaltung hatte die Veröffentlichung mit dem Hinweis verweigert, das Thema habe keinen Bezug zu Dessau-Roßlau.

Im August hat sich die Stadt dann offenbar der Behauptung des selbst ernannten Schonungslosen Aufklärers (abgekürzt: SA) Mrosek geschlagen gegeben, der Artikel sei als „Hinweis“ für den städtischen Klimabeauftragten gedacht und habe deshalb einen Bezug zur lokalen Politik – und hat den Blödsinn veröffentlicht. Dabei haben sich weder lokale Relevanz noch sachliche Fehlerhaftigkeit der blaunen Propaganda verändert.

Amtliche Verantwortungslosigkeit

„Für die sachliche und fachliche Richtigkeit aller Angaben auf den Fraktionsseiten übernimmt die Stadtverwaltung als Herausgeberin des Amtsblattes inhaltlich keine Gewähr“, heißt es unverdrossen und jenseits der Regelungen des Presserechts in der Unterzeile zu den Fraktionsseiten. Die Stadt lehnt mithin alle Verantwortung für zusammenfantasierte Propaganda ab. Sie publiziert verantwortungslos.

Gleiches gilt für die übrigen Fraktionen im Stadtrat: Im geltenden sogenannten Redaktionsstatut (Beschluss des Stadtrates aus Oktober 2019) heißt es, „dass Beiträge für die Fraktionsseiten dann nicht veröffentlicht werden, wenn sie offenbar unwahr sind (…)“. Es ward aufgeschrieben und augenscheinlich vergessen. Wie viel Schwachsinn soll denn Bürgerinnen und Bürgern noch mit quasi amtlichem Segen untergejubelt werden, bis in Verwaltung oder Stadtrat jemand aufwacht? Bei den einen wächst das Eis, bei anderen schmilzt der Verstand.