Partei der Verfälscher

Amtsblatt 07/2023

Verdächtig oder verurteilt? Egal, Hauptsache Asylant*in

Im Amtsblatt der Stadt Dessau-Roßlau veröffentlichen die Stadtratsfraktionen jeden Monat ihre politischen Ansichten. Ungefiltert. Ungeprüft. Vieles kann man vernachlässigen, manches ist sinnfrei – und einiges so falsch, dass die jeweils dargebotenen Behauptungen an dieser Stelle eingeordnet und bewertet werden. Das Amtsblatt ist auf der Website der Stadtverwaltung als pdf zu finden – einfach googeln nach Dessau-Roßlau, Amtsblatt und Jahrgang.

Pädagogische Vorbemerkung und Farblehre

Wer zu einem Thema nichts sagen kann, spricht halt über ein anderes. Das ist im Falle der Blaunen erst einmal erfreulich. Zu Problemen der Stadt fällt der Fraktion nichts ein, also schweigt sie dazu. (Diese Einleitung ist erwachsenen-pädagogisch inspiriert. Getreu dem Motto „immer erstmal etwas Positives ansprechen“.)

„Blaune“ bezeichnet hier eine Partei, die als Haupterkennungsfarbe Blau nutzt, deren politische Ausrichtung farblich aber eher an die Färbung von Lehm und Erde erinnert.

Tatsachen: Grundlage seriöser Diskussion

Pädagogisch ernüchternd ist allerdings das, was die Fraktion anstelle örtlich relevanter Sachverhalte zum Schlechtesten gibt: Es geht – wie könnte es anders sein – um Ausländerkriminalität. Das ist an und für sich o.k., denn es gibt dieses Problem und ergo muss es im demokratischen Diskurs vernünftig diskutiert werden. Womit wir auch gleich beim Thema sind: Wer über Kriminalität sprechen und aufklären will, sollte dabei bei der Wahrheit bleiben. Strafrechtlich ist das Vortäuschen und Verzerren von Sachverhalten in der politischen Diskussion zwar nicht relevant. Rückschlüsse auf die politische Seriosität sind bei solcherlei Vorgehen aber geradezu zwingend. Genug der Vorrede, gehen wir in Medias res:

Verfälschung der Antwort der Bundesregierung

222.529 Straftaten seien 2022 bundesweit von „Asylbewerbern, Personen im Status eines abgelehnten Asylantrags oder eines unerlaubten Aufenthaltes in Deutschland“ begangen worden, schreibt der Führer der blaunen Stadtratsfraktion in Dessau-Roßlau, Andreas Mrosek. Er bezieht sich auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion seiner Partei im Bundestag. In Sachsen-Anhalt habe der selbe Personenkreis 4.954 Straftaten begangen. Das ist in Gänze schlicht falsch.

Verdächtig ist nicht Verurteilt

Fehler 1: Statt von Straftätern ist in der Antwort der Bundesregierung durchweg von Tatverdächtigen die Rede. Wörtlich heißt es in der Drucksache 20/6682: „Die PKS (Polizeiliche Kriminal-Statistik, Anmerkung des Autors) beruht auf dem Erkenntnisstand bei Abschluss der polizeilichen Ermittlungen. Straftaten werden zum Teil von der Polizei, insbesondere wegen des unterschiedlichen Ermittlungsstandes, anders bewertet als von der Staatsanwaltschaft oder den Gerichten. Für die Beantwortung der nachfolgenden Fragen wird daher der Begriff des/der Tatverdächtigen (TV) im Sinne der PKS zugrunde gelegt.“

Übersetzt: Nicht jede*n Tatverdächtige*n klagt die Staatsanwaltschaft auch an. Nicht jede*r Angeklagte wird vor Gericht verurteilt. Bis zu einer Verurteilung gilt in einem Rechtsstaat die Unschuldsvermutung. Der Blaune Führer erklärt alle per se zu Verbrechern. Gerichtsurteile sind dem Manne anscheinend egal.

Zwei Zahlen verdeutlichen, wieso die Unterscheidung zwischen Tatverdächtigen und Straftätern entscheidend ist für die Bewertung der Kriminalitätsentwicklung: Im Jahr 2021 zählte die polizeiliche Kriminalitätsstatistik bundesweit 1.892.003 tatverdächtige Personen. Verurteilt wurden 662.100 Personen, davon 157.508 Personen für Straftaten im Straßenverkehr. Die Angaben unterscheiden nicht nach Herkunft oder Aufenthaltsstatus. Zahlen aus 2022 lagen hier zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels nicht vor. Die Relation von Tatverdächtigen zu Verurteilten sollten geneigte Leser*innen im Hinterkopf behalten bei der Einordnung der folgenden Zahlen.

Manche müssen bleiben – trotz ablehnung

Fehler 2: In der Antwort der Bundesregierung werden Tatverdächtige „mit dem Aufenthaltsanlass ‚Asylbewerber‘, ‚Duldung‘ oder ‚unerlaubter Aufenthalt'“ aufgeführt. Die Formulierung ‚Personen im Status eines abgelehnten Asylantrags‘, die Mrsosek benutzt, ist nicht im Text der Antwort enthalten.

Tatsächlich sind die Asylanträge geduldeter Personen abgelehnt. Im Status Duldung sind eben diese Personen aber gemäß Paragraf 60a Aufenhaltsgesetz (AufenthG) – wie es im Juristendeutsch heißt – nicht vollziehbar ausreisepflichtig. Mit anderen Worten: Der Aufenthalt dieser Personen in Deutschland ist nicht strafbar, sie unterliegen gemäß Paragraf 61 AufenthG diversen Regelungen, wo sie sich aufhalten dürfen.

Mrosek suggeriert mit seiner Wortwahl, die entsprechenden Personen hielten sich jenseits aller rechtlichen Regelungen in Deutschland auf und müssten eigentlich abgeschoben werden. Im Falle eines strafrechtlichen Tatverdachts ist sogar das Gegenteil der Fall.

Denn „die Abschiebung eines Ausländers ist auch auszusetzen, wenn seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet für ein Strafverfahren wegen eines Verbrechens von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht für sachgerecht erachtet wird, weil ohne seine Angaben die Erforschung des Sachverhalts erschwert wäre“ (AufenthG, Paragraf 60a, Absatz 2). Tatverdächtige dürfen also gar nicht abgeschoben werden, wenn Staatsanwaltschaft oder Gericht ihre Anwesenheit zum Zwecke der Aufklärung einer Straftat für geboten halten.

Diletantismus mit zahlen

Fehler 3: Die Anzahl tatverdächtiger Personen in Sachsen-Anhalt mit Aufenthaltsanlässen wie unter 2 dargelegt beläuft sich auf 4.997. Mrosek gibt die Zahl für Thüringen an (4.954). Falsch ist auch seine damit verbundene Behauptung, diese Personen seien allesamt Straftäter. Richtig ist, dass diese Personen verdächtigt werden, Straftaten begangen zu haben.

Ähnlich dilettantisch geht der örtliche Fraktions-Führer mit Zahlen um, wenn es um Dessau-Roßlau geht. Um Werte für die Stadt zu ermitteln, rechnet er angeblich statistisch (wörtlich: „statistisch gerechnet“). Das ist Blödsinn. Man kann nicht statistisch rechnen. Werte einer Statistik werden empirisch ermittelt, also gemessen. Man kann mit Werten einer Statistik rechnen, sie aber nicht berechnen. Mathe auf Niveau der Sekundarstufe.

Fast 12 prozent weniger Straftaten in Dessau-Rosslau

Doch Wortklauberei beiseite. Berechnungen welcher Art auch immer sind im vorliegenden Fall unnötig. Für die Beurteilung der Situation in Dessau-Roßlau reicht ein Blick in die polizeiliche Kriminalitätsstatistik 2022 des Landes Sachsen-Anhalt. Die führt für den Verantwortungsbereich des Polizeireviers Dessau-Roßlau 6.707 Straftaten auf, 11,9 Prozent weniger als im Jahr 2021.

Darunter eine Straftat gegen das Leben, aber weder Mord noch Totschlag (beispielsweise fällt auch fahrlässige Tötung in diese Kategorie, wird aber nicht gesondert statistisch erfasst). 67 Straftaten richteten sich gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 13 Prozent weniger als 2022. Die Deliktszahlen stimmen nicht mit der Anzahl der Verdächtigen überein. Deren Anzahl liegt jeweils wesentlich niedriger, weil Mehrfachtäter dabei sind oder keine Verdächtigen ermittelt werden konnten.

Unter allen Straftaten in Dessau-Roßlau waren 2.042 Diebstahlsdelikte, 26,8 Prozent weniger als 2021. Um 29,5 Prozent angestiegen ist in der Stadt die Anzahl der Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit auf 1.110 Fälle. Rauschgiftdelikte registrierte die örtliche Polizei 350 und damit 36,9 Prozent weniger als im Vorjahr.

die Aufklärungsquote

Aufgeklärt wurden in Dessau-Roßlau 56,1 Prozent aller Straftaten in 2022. Bei Straftaten gegen das Leben (eine) lag die Aufklärungsquote bei 100 Prozent, von den Gewalttaten wurden 91,3 Prozent, von den Rauschgiftdelikten 90 Prozent und von den Diebstählen 37,5 Prozent im Jahr 2022 aufgeklärt.

Genauigkeit und Korrektheit sind aber ja in der Kriminalitätsstatistik auch nicht ganz so wichtig, Hauptsache sie (die Zahlen) regen zum Gruseln an. Wahrscheinlich aus eben diesem Grunde listet der örtliche Fraktions-Führer anstelle der frei im Internet verfügbaren Zahlen zur Situation in Dessau-Roßlau lieber wesentlich höhere Angaben auf, die sich auf das Bundesgebiet beziehen, und unterschlägt die bereits skizzierte Unterscheidung zwischen Tatverdächtigen und verurteilten Täterinnen und Tätern (alle Angaben in diesem Text können frei recherchiert werden).

Wissenschaftlich?

Real-Satire am Rande: Mrosek ist laut Darstellung seines Arbeitgebers, einem Bundestagsabgeordneten der blaunen Fraktion, dessen „Wissenschaftlicher Mitarbeiter“. Na, dann müssen wir uns um die Wissenschaft der Blaunen ja keine Sorgen machen…

Kriminalstatistischen Zahlen- und Wortsalat à la Blaune den Wähler*innen aber als Tatsache unterjubeln zu wollen, ist keine Phantasie-Wissenschaft, sondern politischer Betrug.

Richtigstellung

vom 15. Juli 2023 zum u.g. Beitrag vom 28. Juni 2023 in Bezug auf die Wohungsgenossenschaft Dessau eG:

Wir haben auf dieser Website unter der Überschrift „Robert Reck gegen den Stadtrat: Interessen im Streit um Regenbogenschule“ geschrieben:

„(…) um PLatz für einen Schulneubau zu schaffen, müsste dort (…) ein Wohnblock (…) der Wohnungsbaugesellschaft Dessau (WGD) [abgerissen werden]. Sowohl (…) als auch WGD kämpfen mit dem Problem Leerstand. In vielen alten Wohnblöcken Unternehmen dieser Unternehmen sind nur wenige Wohneinheiten vermietet.“

Hierzu stellen wir richtig:

Es muss kein Wohnobjekt der Wohnungsbaugenossenschaft Dessau (WGD) abgerissen werden, um Platz für einen Schulneubau am Standort Friedrikenstraße zu schaffen.

Die WGD kämpft auch nicht mit Leerstand. Es ist unzutreffend, dass in vielen älteren Wohnblöcken der WDG nur wenige Wohneinheiten vermietet wären.

Ende der Richtigstellung

Robert Reck gegen den Stadtrat: Interessen im Streit um Regenbogenschule – Update vom 08. Juli 2023 mit Korrekturen

Welche Interessen stecken hinter dem Widerspruch des OB?

Regenbogenschule und Monopoly. Eine Schule für geistig behinderte Kinder und ein Gesellschaftsspiel. Die Schule braucht dringend einen neuen Standort, im Spiel geht es um Profit mit Immobiliengeschäften. Wer im Spiel auf dem Feld „Gehe in das Gefängnis“ landet oder die entsprechende Ereigniskarte zieht, setzt erst einmal aus.

Konflikt statt Konsens: Undurchsichtige Motivation

Der Zusammenhang: In Dessau-Roßlau will Oberbürgermeister Robert Reck die Aussetz-Karte ziehen. Nicht für sich, sondern für den Stadtrat. Nicht in einem Spiel, sondern in der Debatte um den neuen Standort der Regenbogenschule. Dabei geht es auch um Immoblilien. Und wohl auch um Profitinteressen. Denn wenn Reck sich durchsetzt, profitieren mutmaßlich Dessauer Wohnungsbauunternehmen. Der Preis für den Profit: Behinderte Mädchen und Jungen müssten mit ihren Familien noch länger auf eine angemessene Schule warten, würden noch länger als schon jetzt absehbar am bisherigen Standort in der Breite Straße in Containern unterrichtet. Dröseln wir die Sachlage mal auf, schauen uns die „Player“ an in diesem bislang reichlich undurchsichtigem Spiel und leiten Indizien für die Motivation des Handelns des OB ab.

Rückblende: Ursprünglich wurden acht Standorte für einen Neubau der Regenbogenschule in Betracht gezogen. Übrig blieben letztlich drei, darunter der Standort an der Bernburger Straße. Das dortige Grundstück gehört der Stadt. Moderne Schulgebäude mit Spiel- und Auffenthaltsbereichen für Kinder mit hohem Bewegungsdrang können dort relativ einfach angelegt werden. Bestätigt hat das eine 85.000 Euro teure Machbarkeitsstudie.

All das galt als Konsens zwischen Stadtrat, fachlich zuständigen Dezernaten und der Verwaltungsspitze, dem Oberbürgermeister. Bis zur Sitzung des Stadtrates am 21. Juni 2023. Auf der Tagesordnung: Beschlussfassung zum neuen Schulstandort an der Bernburger Straße. „Selten gut vorbereitet“ war der Rat laut entsprechender Äußerungen einzelner seiner Mitglieder. Bis auf rund ein halbes Dutzend stimmten die Stadträtinnen und Stadträte für den Standort. Erst dann zog Robert Reck seine vermeintliche Trumpfkarte: Ein Veto. Der Oberbürgermeister kündigte an, gegen den Beschluss des Stadtrates Widerspruch einzulegen. Dafür hat er 14 Tage Zeit. Binnen dieser Frist muss Reck den Widerspruch mitsamt Begründung schriftlich einreichen.

Rechtswidrig oder nachteilig

Laut Kommunalverfassungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt muss respektive kann der Oberbürgermeister als Hauptverwaltungsbeamter gegen Beschlüsse des demokratischen Gremiums Stadtrat unter bestimmten Voraussetzungen Widerspruch einlegen. Paragraf 65 des Gesetzes: „Der Hauptverwaltungsbeamte muss Beschlüssen der Vertretung widersprechen, wenn er der Auffassung ist, dass diese rechtswidrig sind. Er kann Beschlüssen widersprechen, wenn diese für die Kommune nachteilig sind.“

Im vorliegenden Fall kommt nur Nachteilig-Regelung infrage. Sie hat lediglich aufschiebende Wirkung. Der Stadtrat kann den Widerspruch des OB mit einem erneuten Beschluss überstimmen. Danach bliebe dem OB nur noch der Verweis auf Rechtswidrigkeit. Er müsste dann die Kommunalaufsicht einschalten. Nicht nur die würde sich wohl wundern, wenn ein mit der Begründung „Nachteil für die Stadt“ eingereichter Widerspruch nachlaufend als angeblich rechtswidrig eingestuft würde. Will sich Reck nicht lächerlich machen, bliebe es beim Vorwurf des Nachteils, den der Rat der Stadt mit dem Beschluss Bernburger Straße einbrocken angeblich würde.

unternehmen wollen wohnblöcke loswerden – Hinweis zu Korrektur im folgenden Absatz!

Wieso aber soll der Schulstandort Bernburger Straße für die Stadt nachteilig sein? Das muss OB Reck in seinem schriftlichen Widerspruch darlegen – und das dürfte schwierig werden. Vorteilhaft wäre der Standort Friederikenstraße ja – allerdings in erster Linie für die Eigentümer der dortigen Wohnobjekte. Denn um Platz für einen Schulneubau zu schaffen, müssten dort Wohnblöcke abgerissen werden.

Nicht nur in Dessau-Roßlau kämpfen große Wohnungsunternehmen mit dem Problem Leerstand. In alten Wohnungsblöcken sind oft nur wenige Wohneinheiten vermietet. Kosten für Instandhaltung und Versorgung leerer Wohnungen machen ganze Blöcke unrentabel. Das Umlegen entsprechender Gesamtkosten auf verbliebene und oft ältere und/oder gesundheitlich eingeschränkte Mieter*innen hat in der Vergangenheit schon öfter für Ärger gesorgt. Rausschmeißen können die Unternehmen die wenigen verbliebenen Mietparteien aber auch nicht so einfach. Das Gesetz sieht nicht nur für langjährige Mieter*innen Kündigungsfristen von bis zu zwölf Monaten vor.

Korrektur früherer Version der Beitrages:

In der früheren, am 28. Juni 2023 veröffentlichten Version des Beitrages, war im vorstehenden Absatz ein sachlicher Fehler enthalten. Dieser Fehler ist mit Aktualisierung vom 08. Juli 2023 entfallen.

Mieterschutz: Jahrelange verfahren

Gerade bei alten und/oder gesundheitlich eingeschränkten Mieter*innen greift zudem Paragraf 574 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), die Härtefallregelung. Demnach „kann [der Mieter] der Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.“

Kauft die Stadt nun die entsprechenden Wohnblöcke, sind die jeweiligen Eigentümer ihre entsprechenden Probleme auf einen Schlag los. Dann muss die Stadt die entsprechenden Mieter*innen loswerden. Im Falle des DWG-Wohnblocks an der Friederikenstraße sind laut öffentlicher Berichterstattung rund 60 von 160 Wohnungen belegt. Klagen nur einige der Mieter*innen gegen Kündigungen, sind sehr langwierige Gerichtsverfahren absehbar. Die Ergebnisse sind alles andere als voraussehbar. Denn zu den im Gesetz angesprochenen Härten zählt in der Fachliteratur auch eine lange Mietdauer, die mit starker sozialer Verwurzelung im örtlichen Umfeld einhergeht. Eben davon ist gerade bei älteren Mieterinnen und Mietern auszugehen. Die Folge: Der Baubeginn einer neuen Schule verschöbe sich um weitere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.

spontane Intervention oder geplantes gekungel?

All diese Aspekte hätten im Stadtrat trefflich diskutiert und bewertet werden können, wenn OB Reck den von ihm aus dem politischen Hut gezauberten Standort Friederikenstraße frühzeitig als Vorschlag in die Beratungen eingebracht hätte. Hat er aber nicht. Der Fachmann staunt, der Laie wundert sich und spekuliert über die Gründe der Reck’schen Spontaninternvention – die so spontan womöglich gar nicht war.

Auf der Tagesordnung des Ausschusses für Gesundheit, Bildung und Soziales am 14. Juni 2023 stand der „Sachstand zur Standortentscheidung Förderschule für Geistigbehinderte“ zur öffentlichen Beratung. Laut Berichterstattung der örtlichen Presse war die Einordnung des Themas als öffentlich aus Sicht des Stadtratspräsidenten (CDU) ein Versehen. Flugs beantragte CDU-Stadtrat Michael Puttkammer, die Causa nichtöffentlich zu beraten. Er scheiterte mit seinem Antrag.

Scheiterte Überrumpelungs-Taktik aus versehen?

Wieso aber wollte CDU-Mann Puttkammer das Thema nichtöffentlich behandeln? Laut Paragraf 52 Kommunalverfassung „[ist] die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn (…) berechtigte Interessen Einzelner, insbesondere bei (…) der Ausübung des Vorkaufsrechts, Grundstücksangelegenheiten und Vergabeentscheidungen, dies erfordern.“ Dem erfahrenen Stadtrat dürfte diese Regelung geläufig sein. Hat Puttkammer womöglich unter Ausschluss der Öffentlichkeit den bis zu diesem Zeitpunkt nicht angesprochenen Standort Friederikenstraße und den damit verbundenen Kauf des Grundstücks mitsamt der Wohnobjekte behandeln wollen? Für diesen Fall wäre der Paragraf einschlägig gewesen. Dann hätte die CDU die an der Friederikenstraße notwendigen Grundstückskäufe ansprechen und den Rest des Rates damit überrumpen können. Es kam nicht dazu.

Grünfläche und industriegebiet: der WIC interveniert – Hinweis zu Korrektur im folgenden Absatz!

Nur wenige Tage später (Presseberichterstattung am 19. Juni 2023) spricht sich der Wirtschafts- und Industrieclub Anhalt (WIC) öffentlich für den Standort Friederikenstraße aus. Begründung: Für das Grundstück an der Bernburger Straße sei gemäß Flächennutzungsplan eine Grünfläche vorgesehen. Außerdem läge die Schule dort neben einem „Industriegebiet“. Gleich mal ein Kreuz im Kalender machen: Der WIC nimmt eine geplante Grünfläche zum Anlass, eine Bebauung abzulehnen. Ansonsten ist der Lobby-Club eher weniger gut auf Stadtwildnis und ähnliche Dinge zu sprechen… Das vermeintliche Industriegebiet ist eine relativ übersichtliche Gewerbefläche. Im benachbarten Jugendclub Thomas-Müntzer verbringen Kinder und Jugendliche Teile ihrer Freizeit.

Aus den Fingern gesogen erscheint als relativ freundliche Beschreibung für die vermeintlichen Argumente des WIC gegen die Bernburger Straße. Wesentlich handfester muten die Interessen an, die der WIC für seine Mitglieder vertritt und damit auch für die Herren Nicky Meißner und Matthias Kunz. Meißner und Kunz sind in leitenden Positionen in der Dessau-Roßlauer Wohnungswirtschaft tätig.

Korrektur früherer Version der Beitrages:

In der früheren, am 28. Juni 2023 veröffentlichten Version des Beitrages, war im vorstehenden Absatz ein sachlicher Fehler enthalten. Dieser Fehler ist mit Aktualisierung vom 08. Juli 2023 korrigiert worden.

Links-Unternehmer mit interessen?

Dass der Vorsitzende der Linksfraktion im Stadtrat, Ralf Schönemann, nach dem Scheitern des Antrages seines CDU-Ratskollegen auf Nichtöffentlichkeit am 14. Juni eine Vertagung des Tagesordnungspunktes Standort Bernburger Straße vorschlug (auch dies kam nicht zustande), wäre dabei nur noch eine lächerliche Fußnote, würde nicht auch sein Entsorgungsunternehmen von Aufträgen der Stadt profitieren (und bei einem Abriss der Wohnblöcke in der Friederikenstraße gäbe es einiges zu entsorgen).

Pläne des DWG-Geschäftsführers

Geschäftsführer der stadteigenen DWG ist seit April 2022 Thomas Florian. Die Stelle hat Florian sicherlich nicht ohne Zustimmung seitens OB Reck erhalten. Und Reck hätte kaum einen Geschäftsführer eingestellt, der nicht bereit wäre, Recks Vorstellungen und Pläne umzusetzen. Florians erklärte Absicht ist es, die DWG vom Leerstandsverwalter zu einem profitablen Unternehmen umzubauen, das im Sinne der Stadtentwicklung agiert. Ergo muss es im Interesse des Geschäftsführers liegen, die Leerstände an der Friederikenstraße abzustoßen. Und nichts liegt näher, als dass Reck seinen Geschäftsführer entsprechend unterstützt – zum Beispiel mit einem Kauf der Blöcke zum Zwecke des Abrisses, weil dort eine Schule gebaut werden soll.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass Recks Widerspruch geradezu geplant gewesen sein muss. Und sei es als letzte Option, wenn alle anderen Versuche der Einflussnahme nicht fruchten. Seine offizielle Begründung, er wolle sein Wahlversprechen einhalten, die Innenstadt zu beleben und deshalb die Schule in der Friederikenstraße ansiedeln, ist irgendwas zwischen hilflos und lächerlich. Bestenfalls ein Ablenkungsmanöver. Oder einfach der Versuch, den Stadtrat damit unter Druck zu setzen, dass er, Reck, ja schließlich für sein Vorhaben Innenstadtbelebung gewählt worden sei. Wobei fraglich bleibt, welche belebenden Auswirkungen eine Schule auf die City haben soll.

Baukosten sind nicht Gesamtkosten

Was bleibt, ist der Verweis des Oberbürgermeisters auf niedrigere Baukosten an der Friederikenstraße. Dort sei das Bauen drei Millionen Euro günstiger machbar als an der Bernburger Straße. Die Beigeordnete für Bauen und Stadtgrün, Jacqueline Lohde, hatte hingegen auf höhere Kosten an der Friederikenstraße im Vergleich zur Bernburger Straße hingewiesen. Mögliche Lösung: Lohde bezieht sich auf die Gesamtrechnung, Reck gibt nur Baukosten an. Kosten für Grundstückserwerb, Gerichtsverfahren und Abbruch sind in Baukosten allein nicht enthalten. Das wäre noch eine Nebelkerze des Oberbürgermeisters.

Verwaltung: Widerspruch gegen widerspruch

Entsprechende Fragen stellt man sich offenbar auch in der Stadtverwaltung. Aus gut unterrichteter Quelle verlautet, dass selbst hochrangiges Personal der Administration den Plänen Recks gelinde gesagt kritisch gegenübersteht. Der Oberbürgermeister könne weder die Rechtswidrigkeit des Stadtratsbeschlusses, noch daraus erwachsende Nachteile für die Stadt darlegen. Der Schulneubau sei dringend notwendig, Recks Widerspruch verzögere schon weit fortgeschrittene Planungen, grummelt es.

Welcher Vorteil sich für die Stadt daraus ergibt, dass für das vorliegende Machbarkeitsgutachten noch einmal 10.000 Euro nachgeschossen werden müssen, um auch den neuen Standort Friederikenstraße zu berücksichtigen, bleibt vorerst das Geheimnis des Hauptverwaltungsbeamten. Zumal das Geld mutmaßlich für einen Standort ausgegeben würde, der nicht gegen den Beschluss des Stadtrates durchzusetzen ist.

KapitAl oder Kinder: Öffentlichkeit mobilisieren

Klar, ohne Kapital kommt die Belebung der City nicht voran. Kapital kann nur von Unternehmen kommen. Aber es muss am richtigen Ort eingesetzt werden. Und Kapital darf nicht wichtiger sein als Kinder. Dem Vernehmen nach erwägen erste Stadträtinnen und Stadträte, Eltern und Öffentlichkeit zu mobilisieren.