Robert Recks kommunikative Fehlleistung zu schutzsuchenden Jugendlichen in Roßlau
Es begann mit einem Neonazi-Flugblatt zu einer Asyl-WG und endet im Kommunikationsdesaster. Ohne Not redet die Beigeordnete für Soziales eine geplante Wohngemeinschaft für unbegleitete Jugendliche ins politische Desaster, die örtliche Zeitung ergeht sich in Sensationsgier und der Oberbürgermeister schweigt. Eine Woche des kommunikativen Chaos der Stadtverwaltung.
16. August 2023: Vereinzelt tauchen in Roßlau Flugblätter einer rechtsextremen Kleinstpartei auf. „Asylflut stoppen! Auch in unserer Region!“ heißt es. Urheber: Eine rechtsextreme Kleinstpartei. Laut Bundeszentrale für politische Bildung hat sie „ein stark neonazistisches Profil“. Auf den Flugblättern ist die Rede von einem „Asylheim“ für „sogenannte ‚minderjährige‘ Asylanten“. Es soll angeblich in Roßlau entstehen.
„Asylantenheim“ und Ahnungslosigkeit
22. August 2023: Sitzung des Ausschusses für Bürgeranliegen, öffentliche Sicherheit und Umwelt des Stadtrates Dessau-Roßlau. Ob in Roßlau ein „Asylantenheim“ geplant sei, will der Vertreter der Fraktion der Blaunen Partei (Partei mit blauem Logo und bräunlicher Ideologie) wissen. Der Beigeordnete für Bürgeranliegen, Sicherheit und Umweltschutz „weiß nicht, woher das Gerücht kommt“. Es gebe keine entsprechende Planung. Die Stadt verfolge das Konzept der dezentralen Unterbringung. Insofern könne von Heimen für Asylsuchende sowieso keine Rede sein.
26. August 2023: Die „Gerüchte“ zu einem angeblichen Heim für Schutzsuchende „sorgen für Unruhe“ titelt die lokale Presse. Oberbürgermeister Robert Reck weiß laut Bericht auch nichts. Er kenne „keinen Plan von einem neuen Heimstandort“. Ein solcher würde in den zuständigen Ausschüssen des Stadtrates vorgestellt. „Eine Vorlage“ entsprechenden Inhalts sei ihm nicht bekannt, sagt der OB laut Bericht, und betont, dass Vorlagen vor Beratung in den Dienstbesprechungen des OBs thematisiert würden. Allerdings habe man wegen der Flugblätter den Staatsschutz eingeschaltet.
Eter Hachmann, Beigeordnete für Soziales, belehrt lieber, als dass sie Auskunft erteilt: Laut Zeitung „riet [sie] (…) von einer Berichterstattung ab“ und vertröstete auf die kommende Woche. Dann habe sie „Zahlen und Fakten“, schreibt die Zeitung.
Nur ein Immobilienkauf
30. August 2023: Im Hauptausschuss greift der Führer der Blaunen Fraktion, Andreas Mrosek, das Thema erneut auf, fragt gleich zu Beginn nach dem angeblich geplanten Heim. Oberbürgermeister Robert Reck wiegelt ab. Von einem Heim wisse er nichts. Das infrage stehende Objekt in Roßlau sei von einem Freien Träger der Jugendhilfe gekauft worden, sagt die Bürgermeisterin und Beigeordnete für Bauen und Stadtgrün. In die Planung zur Nutzung des Objekts sei die Stadt derzeit nicht eingebunden. Anscheinend ist das Thema damit erledigt. Weit gefehlt…
Freie Träger: Privilegiert oder gewerblich
Was verbirgt sich hinter der Bezeichnung Freier Träger? Die Antwort gewinnt weiter unten Bedeutung. Kurz skizziert: Auf der öffentlichen, sprich staatlichen, Seite stehen die „Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe“. Das sind die Landesjugendämter und die örtlichen Jugendämter. Die Landesebene beaufsichtigt und koordiniert.
Zuständig für die Betreuung von Jugendlichen vor Ort sind die kommunalen Jugendämter. Sie erbringen entsprechende Leistungen in der Regel nicht selbst, sondern beauftragen und beaufsichtigen Freie Träger. Diese organisieren und betreiben zum Beispiel Wohngruppen für Jugendliche. Entsprechende Projekte müssen Freie Träger beim zuständigen Jugendamt beantragen und dabei Konzepte zu Betreuung und Organisation vorlegen.
Betreuung mit Gewinn
Freie Träger können gemeinnützig sein, dazu zählen kirchliche Organisationen wie Caritas und Diakonisches Werk, aber auch Hilfsorganisationen wie die Arbeiterwohlfahrt und das das Rote Kreuz. Die Gemeinnützigkeit dieser Träger ergibt sich aus der jeweiligen Rechtsform. Meist sind es gemeinnützige eingetragene Vereine (e.V.) oder gemeinnützige Gesellschaften mit beschränkter Haftung (gGmbH). Weil diese gemeinnützigen Träger Sitz und Stimme in den Jugendhilfeausschüssen der Jugendämter haben, gelten sie als privilegierte Träger.
Privat-gewerbliche Träger hingegen agieren mit Gewinnerzielungsabsicht; mit anderen Worten: Bei ihnen handelt es sich um Unternehmen, die Geld verdienen möchten; auch Betriebskindergärten gehören zu diesem Kreis. Diese privaten Träger müssen gegenüber den Jugendämtern Rechenschaft ablegen und Auskunft erteilen, sie sind nicht an Entscheidungsfindungen beteiligt, also nicht privilegiert. Ebenso wie gemeinnützige Freie Träger müssen gewerbliche Freie Träger qualifiziertes Personal und Konzepte vorweisen.
Vom Freibad zur Flüchtlingswohnung
Zurück zum Hauptausschuss: Mrosek wärmt den von seiner Partei während der Sommerpause inszenierten Pseudoskandal um angeblichen freien Eintritt in Freibäder für Asylsuchende auf. Das ist zwar längst widerlegt, aber darum geht es dem Blaunen-Führer offenbar auch gar nicht. Er nutzt das Thema, um wieder auf das angebliche „Asylheim“ zu kommen. Aus seiner Sicht „politischer Zündstoff vor Ort“. Wenn es um die Unterbringung von Asylsuchenden gehe, müssten die Einwohner quasi ein Mitspracherecht haben.
Geduldig erläutert Bürgermeisterin Lohde, Der Nutzungsantrag werde gemäß Bauordnungsrecht abgearbeitet. Die Nutzung eines Objekts als Wohnraum sei eine rein verwaltungsrechtliche Angelegenheit. Wohnen sei keine politische Angelegenheit, „egal wer wohnt“. Der Leiter des Schulverwaltungsamts, Stefan Kuras, sagt, ein Antrag auf Betreuung in dem Objekt von Kindern und Jugendlichen müsse beim Jugendamt gestellt werden, liege aber nicht vor. Die Zulassung als Freier Träger erteile das Landesjugendamt.
Bunte, SPD und Linke gegen Blaune
Silvia Koschig, für die Wählergemeinschaft Neues Forum-Bürgerliste Mitglied der Bunten Fraktion weiß anscheinend mehr. Sie berichtet, in dem umgebauten Objekt sollten Kinder unabhängig von ihrer Herkunft betreut werden. Es solle eine Hilfseinrichtung für gefährdete Kinder und Jugendliche werden.
Blaunen-Mann Mrosek giftet, nichtsdestoweniger würden Ausländer die „Straßen unsicher machen“. Einer offen neonazistischen Kleinstpartei und ihren Flugblättern will er wohl nicht das Feld überlassen. SPD-Fraktions-Chef Michael Fricke platzt der Kragen, schimpft: „Sie versuchen, mit dummem Gerede etwas am Kochen zu halten.“ Mrosek wolle einen Verwaltungsvorgang „politisch aufladen“. Ralf Schönemann, Vorsitzender der Linken-Fraktion, pflichtet ihm bei. Es gehe um Hilfe für gefährdete Kinder. Ende der Debatte.
Schlagzeile „Flüchtlings-WG“
1. September 2023: „Flüchtlings-WG in Roßlau“ macht die regionale Zeitung ihren Lokalteil auf und bezeichnet die Betreuung minderjähriger Asylbewerber als „Geschäft“, mit dem sich „viel Geld verdienen“ lasse. Grundlage ist offenbar ein Gespräch mit Eter Hachmann, der Beigeordneten für Soziales. Sie bewertet den Vorgang laut Bericht skeptisch. Mit sensationsheischenden Schlagzeilen kann man auch viel Geld verdienen.
An der Eignung des Objekts seien ebenso Zweifel angebracht wie am Ort an sich. Denn in Roßlau seien schon viele Unbegleitete Minderjährige Ausländer (UMA) untergebracht. Bislang zehn Personen in drei Wohngruppen. Für ganz Dessau-Roßlau zählt das Jugendamt 29 Personen. Verhindern könne die Stadt das Vorhaben laut Hachmann nicht und werde die Unterbringung auch gegen Widerstand der Bevölkerung durchsetzen, formuliert die Zeitung. Für die Sicherheit der Bevölkerung werde die Stadt aber sorgen.
Schweigen und Stolpern
Es bleibt gelindes Kopfschütteln. Wenn nicht mehr. Denn angesichts der skizzierten Fehlleistung in Sachen öffentlicher Kommunikation schüttelt es eher den ganzen Körper. Anstatt in der sich ankündigenden öffentliche Debatte offensiv und offen klare Akzente zu setzen, rennt die Stadtverwaltung den Ereignissen hinterher und verstolpert sich dabei aufs Ungeschickteste. Wobei: Was für Ereignisse? Es hat sich noch gar nichts ereignet.
Ein völkisch-neonazistisches Grüppchen hat ein hetzerisches Pamphlet verteilt. Etablierte örtliche Vertreter ähnlichen Gedankenguts wollen sich das Thema nicht wegnehmen lassen und blasen es mit einigen ideologisch unterfütterten Fragen zur Stadtaffäre auf. Die örtliche Presse wittert eine Chance, mit reißerischer Schlagzeile Auflage zu schinden. Eine Beigeordnete geriert sich, die Verwaltung und damit die Stadt als Opfer. Und der Oberbürgermeister schweigt.
Kommunikation ist Führung
Es ist kaum anzunehmen, dass das Vorhaben, einige Jugendliche in einer betreuten Wohngruppe in Roßlau unterzubringen, der Stadt erst seit Erscheinen des ominösen Flugblattes bekannt war. Sehr wohl ist aber angesichts der bisherigen Entwicklung davon auszugehen, dass es keine Vorüberlegungen – geschweige denn ein Konzept – dazu gegeben hat und gibt, wie die Stadtverwaltung das Vorhaben kommunizieren will.
In der demokratischen Debatte ist Führung im besten Sinne gleichzusetzen mit Kommunikation. Kommunikation erfordert ein Konzept. Ein solches Konzept beinhaltet klare Orientierungshilfe zu Kernbotschaften. Fachleute sprechen vom Agenda-Setting. Eine mögliche Agenda blinzelte zu Beginn sogar schüchtern durch den Vorhang des orientierungslosen Schweigens hindurch: Dezentrale Unterbringung.
Keine Heime in Dessau-Roßlau
In Dessau-Roßlau gibt es keine „Heime“, in denen Dutzende Schutzsuchende menschenunwürdig zusammengepfercht vegetieren. Dezentrale Unterbringung in kleinen Wohneinheiten gilt als Schlüssel zu gelingender Integration, weil sie den Menschen Eigenständigkeit, Privatsphäre und Würde bietet. Der für die neue Wohnung in Roßlau vorgesehene Träger hat offenbar Erfahrung. Die gesetzlichen Grundlagen sind klar und eindeutig.
All das hätte von Vornherein klar und deutlich kommuniziert werden können. Nicht von nachgeordneten Funktionsträgern in der Verwaltung, sondern von der Spitze derselben. Vom Hauptverwaltungsbeamten. Vom Oberbürgermeister. Der macht sich – ganz Staatsmann – lieber Gedanken um den Koalitionsvertrag der Regierungsparteien im Landtag und darum, dass dieser Vertrag für Dessau-Roßlaus Kultur (Stichwort: Übernahme der Gemäldesammlung und Zuschüsse fürs Anhaltische Theater – das Thema kommt in einem anderen Beitrag dran) irgendwie ungünstig sei.
Kommunikative Fehlleistung
Spätestens seit der Einbindung des Staatsschutzes angesichts der Neonazi-Propaganda hätte Robert Reck als oberster Vertreter nicht nur der Stadtverwaltung, sondern gleichsam als Repräsentant des demokratischen Souveräns die Führung übernehmen müssen. Wenn ihm schon augenscheinlich der politische Instinkt fehlt zu erkennen, wo sich eine gelinde Krise zusammenbraut, hätte er das Mittel der Wahl in der demokratischen politischen Auseinandersetzung ergreifen müssen, um sich vor Demokratie und Gesetz zu stellen: das klare und unmissverständliche Wort.
Doch Reck schweigt. Mehr und schlimmer noch: Er lässt Vertreter*innen der Verwaltung ohne Deckung ins kommunikative Desaster stolpern. Die Schlagzeile gewordene kommunikative Fehlleistung der Beigeordneten für Soziales ist letztlich fehlender Führungsverantwortung des Oberbürgermeisters geschuldet.
Konzentration?
Angesichts von sage und schreibe insgesamt zehn Jugendlichen von „Konzentration“ zu sprechen (so gibt die Zeitung Hachmanns Einlassungen wider), angesichts von drei Wohngemeinschaften dort eine „Verteilung“ zu fordern, ist dermaßen ungeschickt (gelinde ausgedrückt), da fällt die augenscheinlich fehlende Information und Maßgabe zur Kommunikation für den der Beigeordneten unterstellten Schulamtsleiter kaum noch ins Gewicht.
Zu Hachmanns Entschuldigung kann man höchstens annehmen, dass sie es in Sachen kommunikativer Orientierung für ihren Verantwortungsbereich ihrem Chef gleichgetan hat. Mit dem einen Unterschied, dass der OB beim Schweigen bleibt, während Hachmann sich um Kopf und Kragen und die Sache unangespitzt in Grund und Boden redet.